Eine unbekannte Tristan-Dichtung wird von zwei Autoren einem Verfasser mit dem Beinamen la chièvre (‚die Ziege‘) zugeschrieben. Der ältere Beleg stammt aus der um 1175 entstandenen zweiten Branche des Roman de Renart. Hier ist nur von Tristan die Rede (V. 5 = Martin 1882, S. 91). Den jüngeren Beleg finden wir in einer kleineren geistlichen Dichtung, dem Miracle de Marie. Sie wurde am Anfang des 13. Jahrhunderts von einer anonymen Nonne verfasst, die in einer Überschrift trésorière (‚Schatzmeisterin‘) genannt wird. In ihrem Prolog ist sowohl von Tristran und Isault die Rede, und der Beiname des Autors wird als Maskulinum aufgefasst (V. 7: Li Kievres = Gröber 1902, S. 428). Die Dichtung, worauf in beiden Fällen angespielt wird, erscheint zusammen mit anderen epischen Texten und muss deshalb eher ein Roman gewesen sein. Zu diesen epischen Texten gehören der Cligès und der Perceval. Chrétien von Troyes wird ausdrücklich als Autor dieser Romane beschrieben und kann also nicht mit La Chèvre identisch sein.
Dieser sonst unbekannte Autor kann im Prinzip der Urheber der Tristansage sein, da er seinen Text vermutlich vor Thomas von Britannien schrieb. Es ist möglich, dass seine verlorene Dichtung als Vorlage für sowohl Thomas als auch Béroul diente. In diesem Fall ist sie vielleicht gemeint, wenn Béroul sich auf eine estoire beruft (V. 1267 = Muret 1922, S. 39 und V. 1789 = Muret 1922, S. 55). Die beiden Quellenberufungen dieses Tristandichters sind allerdings sehr allgemein und lassen keine sicheren Schlussfolgerungen zu.