Waltharius

Der Waltharius (W) ist eine lateinische Kunstdichtung aus der Ottonenzeit. Sie erzählt die Vorgeschichte der Nibelungensage und gehört streng genommen nicht dazu.

Kurzbeschreibung

Zusammenfassung

  • Der Franke Hagano, der Aquitanier Waltharius und die Burgunderin Hiltgunt wachsen in Pannonien als Geiseln des mächtigen Hunnenkönigs Attila auf. Er hat ganz Westeuropa ausgeplündert und einen riesigen Schatz gesammelt. Waltharius und Hiltgunt verlieben sich und stehlen den Schatz. Hagano eilt ihnen nach und erzählt in Worms seinem König Guntharius, was passiert ist. In den Vogesen werden die Verliebten von Guntharius, Hagano und 12 Gefolgsleuten eingeholt, und es kommt zu Einzelkämpfen in einem Engpass. Waltharius besiegt die Gefolgsleute und verliert seine rechte Hand im abschließenden Kampf gegen Guntharius und Hagano. Die beiden Franken verlieren bzw. ein Bein und ein Auge, versöhnen sich aber mit Waltharius. Er heiratet am Ende mit Hiltgunt. Das Schicksal des Schatzes verbleibt im Dunkeln.

Hauptfiguren

  • Waltharius (W 95): König von Aquitanien (vgl. NLB 1753, 2341: Walther)
  • Guntharius (W 29): Frankenkönig aus Worms (vgl. NLB 2: Gunther)
  • Hagano (W 27): Frankenkrieger aus trojanischem Geschlecht (vgl. NLB 7: Hagen)
  • Attila (W 11): Hunnenkönig aus Pannonien (vgl. NLB 3: Etzel)
  • Hiltgunt (W 36): Prinzessin aus Burgund, heiratet Waltharius (vgl. NLB 1753: Hildegunt)
  • Ospirin (W 369): Attilas Frau (vgl. NLB 1140: Helche)
  • Gibicho (W 13): Guntharius‘ Vater (vgl. NLB 5: Dancrat)
  • Patavrid von Metz (W 846): Haganos Neffe (vgl. NLB 7: Ortewin von Metz)

Verortung der Sage im Elsass

  • Die Haupthandlung findet bei einem Engpass in den Vogesen, unweit von Worms statt. Die Beschreibung des Schauplatzes passt zum Standort der Burg Wasigenstein im nördlichen Elsass und hat zu der romantischen Annahme geführt, dass der Verfasser des Waltharius tatsächlich diese Berglandschaft im Kopf hatte.

Die Burgruine Wasigenstein bei Obersteinbach im Nordelsass

Die Verfasserfrage

  • Als Autor des Waltharius kommen zwei Personen in Frage. Dem Text ist in drei Handschriften ein Prolog vorangestellt, in dem sich ein unbekannter Geraldus (V. 22) als Verfasser des Texts vorstellt. Er widmet sein Werk einem Bischof oder Erzbischof namens Eckambaldus (V. 5f), der sich nicht eindeutig identifizieren lässt. Wegen der Überlieferungslage wird die Echtheit des Prologs oft angezweifelt, zumal der Mönch Ekkehard IV. in einer um die Mitte des 11. Jahrhunderts entstandenen Chronik des St. Gallener Klosters erzählt, sein Namensbruder und Vorgänger Ekkehard I. habe eine vitam Waltharii manufortis (‘Biographie des Walther mit der starken Hand’) in jungem Alter als Schulübung verfasst. Ekkehard IV. selbst habe diesen Text nach bestem Vermögen verbessert (Casus Sancti Galli: Arx 1829 (lat.), von Kronau 1878 (dt.)). Die letztere Hypothese wurde am heftigsten von Henri Grégoire bekämpft. Bei einem am 6. Januar 1936 in Straßburger Universitätspalast gehaltenen und im selben Jahr erschienenen Vortrag nahm er sich vor, „zur kalten Vernunft und zu den bezeugten Tatsachen allein“ (à la froide raison et aux seuls faits attestés) (Gregoire 1936, S. 208) zurückzukehren. Er argumentierte dafür, dass Ekkehard IV. ein so schlechter Dichter war, dass er unter keinen Umständen die Schlussfassung des Gedichts hätte schreiben können, und folgerte, dass dieser Mönch und dessen Vorgänger dem Waltharius „fremd“ (étrangers) seien. Grégoire identifizierte den Widmungsträger mit Eckanbald, Bischof von Straßburg von 965 bis 991. Dieser ist einige Monate vor einem urkundlich belegten Geistlichen namens Gerold gestorben. Dieser Kleriker widmete seinem Bischof zwölf Verse, die in vieler Hinsicht an den Prolog des Waltharius erinnern. Nach Grégoire ist das lateinische Gedicht also in Straßburg entstanden: „Peut-on douter de l’origine strasbourgeoise […] du prologue du Waltharius? Non certes.“ (Gregoire 1936, S. 203)

Interpretation

  • Der Verfasser des Waltharius erzählt auf den ersten Blick von einer fernen Vergangenheit. Am Ende der Erzählung, die sich über einige Jahrzehnte erstrecken dürfte, sind sowohl Guntharius als auch Attila am Leben. Da ihre historischen Vorbilder bzw. 436 und 453 starben, muss sich die Handlung zu Beginn des 5. Jahrhunderts abspielen, also mehr als ein halbes Jahrhundert vor der mutmaßlichen Abfassungszeit des lateinischen Gedichts.
  • In Wirklichkeit scheint der Autor seine eigene Gegenwart durch den Schleier der Völkerwanderungszeit darzustellen. Im 10. Jahrhundert wiederholten sich die Einfälle der Hunnen, die sich jetzt Ungarn oder Magyaren nannten. Attila begann, um 434 von Pannonien aus plündernd durch Westeuropa zu ziehen, und wurde erst 451 Schlacht auf den Katalaunischen Feldern in der Nähe von Troyes entscheidend besiegt.
  • In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts tauchten die Magyaren im heutigen Ungarn auf und plünderten 889 Teile des Ostfränkischen Reichs aus. Zwischen 907 und 925 schlugen sie bayerische Truppen und eroberten Teil des heutigen Österreich und der heutigen Slowakei. 937 nahmen sie Châlons-sur-Saône ein. Dieses Jahr wird von Flodoard von Reims bestätigt. Châlons-sur-Saône lag mitten in dem Reich, das die Burgunden nach ihrer Niederlage am Rhein und ihrer Umsiedlung in den Süden begründet hatte und das heute noch ihren Namen trägt. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Burgundenkönig Heriricus, Hiltgunts Vater, sich bei Attilas Einfall in sein Reich gerade in Châlons-sur-Saône aufhält (W 52: Cabillonis). 17 Jahre später unternahmen die Ungarn einen neuen Einfall in Westeuropa und zwangen 954 der Bevölkerung in Worms ein hohes Tribut an Gold und Silber ab, dazu noch kurz vor Ostern (vgl. Widukind, Res gestæ Saxonicorum, III,30). Gerade in dieser Stadt hat Guntharius seinen Hof (W 433, 831, 940, 948, 1446: Wormatia). Die Ungarneinfälle hörten nach der Schlacht auf dem Lechfeld am 10. August 955. Dieses Ereignis scheint auch im Waltharius seinen Niederschlag gefunden zu haben, denn Attila stellt am Ende des Gedichts keine Drohung für Westeuropa mehr dar.
  • Die Tributzahlung der Wormser war noch im allgemeinen Bewusstsein, als Erckanbald, der mutmaßliche Widmungsträger des Waltharius, 965 zum Bischof von Straßburg gewählt wurde. Die Ausplünderung Worms durch die Ungarn im Jahr 954 hat mit anderen Worten höchstwahrscheinlich die Verortung der späteren Nibelungensage in dieser Stadt verursacht.
  • Wenn der Dichter des Waltharius mit Erckanbalds Kleriker Gerald identisch war, schrieb er sein Gedicht im Ostfränkischen Reich, unweit der Grenze zum Westfränkischen Reich. Südlich des Elsasses lag Burgund, das nach den Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts an Karl den Kahlen gefallen war. Erst nach dem Tod dieses Königs 877 löste sich Niederburgund vom Westfränkischen Reich. Der westliche Teil von Burgund, der unter der Herrschaft des Westfränkischen Reichs verblieb, wurde als Regnum Burgundiæ bezeichnet. Châlons-sur-Saône gehörte dazu.
  • Der Waltharius handelt von einem Kampf um einen Schatz, der von der burgundischen Königstochter Hiltgunt bewacht wird. Am Ende ist erstaunlicherweise nicht mehr von diesem Schatz die Rede. Waltharius reist mit Hiltgunt nach Aquitanien, heiratet sie und herrscht 30 Jahre (W 1450). Guntharius bleibt in Worms, offenbar ohne Schatz noch Ehefrau. Es liegt nahe, den Schatz als Metapher für das seit dem Tod Ludwigs des Frommen im Jahr 840 von Ost- und Westfranken umkämpfte und noch 937 von Ungarn ausgeplünderte Burgund zu sehen. Hiltgunt personifiziert gleichsam den Schatz, der ihr anvertraut ist. Ihre Ehe mit Waltharius scheint deshalb die Vereinigung Burgunds mit Aquitanien widerzuspiegeln, die grob gesagt die Grundlage für das heutige Frankreich bildet.
  • Der Kampf zwischen Waltharius und Guntharius könnte den Kampf zwischen dem ersten westfränkischen König Karl dem Kahlen und dem ersten ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen symbolisieren. Karl der Kahle herrschte 29 Jahre als König von Aquitanien, und diese Dauer ist erstaunlich nah an der Regierungszeit des Waltharius. Ein zusätzlicher Hinweis auf den westfränkischen König ist in einer direkten Anrede zu finden. Beim achten Zweikampf verliert Waltharius zwei Haare und wird von seinem fränkischen Gegner als „Kahlkopf“ (W 991: calve) verhöhnt.
  • Zu dieser Interpretation, vgl. Peter Hvilshøj Andersen: Mourir dedans ou dehors, voilà la question dans la légende des Nibelungen. In: Études Médievales 9–10 (2008), S. 30–41, hier S. 33–35 (Hinweis Kragl 2012, S. 679f),