Die Herkunft der Nibelungensage
Die Nibelungensage ist die wichtigste Sage Nordeuropas und bis auf Englisch in allen germanischen Sprachen vertreten. Außerhalb des germanischen Sprachraums ist dagegen fast keine Spur davon zu finden. Die Entstehung der Sage, eine der umstrittensten Fragen der Altgermanistik, wird gewöhnlich in der Völkerwanderungszeit gesucht. Unbestreitbar ist der Kern der Sage im kurzlebigen Burgundenreich zu suchen, das zu Beginn des 5. Jahrhunderts am Rhein belegt ist. Hauptquelle zu seiner Geschichte ist die um 455 verfasste Epitoma chronicarum des Prosper Tiro von Aquitanien. Hier sind zwei ganz kurze Erwähnungen zu finden: 413 ließen sich die Burgunden am Rhein nieder, und 435 wurde ihr König Gundicharius mit seinem ganzen Volk von den Hunnen getötet. Die beiden Angaben passen ziemlich gut zum Nibelungenlied, denn hier haben die Burgunden am Anfang einen König namens Gunther, der am Rhein herrscht, und am Ende der Erzählung gehen sie unter, und Gunther stirbt. Alle anderen Sagenausformungen weichen erheblich mehr von der erwähnten Chronik ab als das Nibelungenlied und betten die Erzählung nur ausnahmsweise in die Geschichte der Burgunden ein.
Das Nibelungenlied lässt sich verhältnismäßig genau datieren. Textimmanente Indizien und zahlreiche Rezeptionszeugnisse aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts engen die Entstehung auf den Zeitraum 1200-1205 ein. Somit ist das Nibelungenlied das älteste Sagenzeugnis. Alle anderen verwandten Texte sind in ihrer vorliegenden Form jünger und lassen sich nur mit spekulativen Rückdatierungshypothesen in die Zeit vor 1200 verlegen.
In Skandinavien ist die Sage zunächst um 1208 in Dänemark durch eine kurze Erwähnung in den Gesta Danorum (XIII,6,7) des Saxo Grammaticus belegt, dann zwischen 1220 und 1230 auf Island durch eine längere Passage in der Edda des Snorri Sturluson. Nur die in einer unikalen Abschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts überlieferte Liedersammlung, die als die Lieder-Edda bekannt ist, stellt erhebliche Datierungsprobleme dar. Es wird allgemein angenommen, dass die rund 30 Götter- und Heldenlieder der erhaltenen Handschrift in der vorliegenden Form von einer verlorenen Sammlung aus dem frühen 13. Jahrhundert abgeschrieben wurden. Wann die Urform der Lieder entstand, ist dagegen umstritten. Die Datierungsvorschläge reichen von der Besiedlung Islands im späten 9. Jahrhundert bis hin zu Snorris Lebzeiten. Es bestand lange Konsens darüber, dass die Lieder-Edda die Ursage treuer widerspiegelte als Snorris Edda und vor allem treuer als das mittelhochdeutsche Nibelungenlied, das als Anpassung eines alten heidnischen Stoffes an die raffinierte christliche Ritterkultur angesehen wurde. In Wirklichkeit spricht alles dafür, dass Snorri das Nibelungenlied in einer Handschrift vorlag und dass er das christlich inspirierte Gedicht in einen Bericht heidnischer Prägung verwandelte, um die phantasievolle Götterlehre zu unterstützen, die er in seiner Edda aufgrund ganz weniger Quellen entwickelte. Als Hauptquelle benutzte er die Gesta Danorum. Saxo erzählt ziemlich ausführlich von falschen Göttern, die er auf Latein Othinus, Thor, Frigga, usw. nennt. Sie wurden von Snorri auf Isländisch Odin, Thor, Freja, usw. umbenannt. Von den vielen Göttern der Prosa-Edda ist nur Thor vor 1200 in skandinavischen Quellen belegt, hauptsächlich auf Runeninschriften.
Die Rückdatierung der eddischen Lieder in eine schriftlose Vergangenheit beruht auf dem Mündlichkeitspostulat. Weil die Lieder von einer im 13. Jahrhundert längst überholten heidnischen Vergangenheit erzählen und in einer altertümlichen Kunstsprache verfasst sind, bekommt man unmittelbar den Eindruck, dass sie uralt sind und durch Jahrhunderte von Mund zu Ohr überliefert wurden. Ganz ähnlich stellt man sich meist vor, dass der Untergang des Burgundenreichs im 5. Jahrhundert Heldenlieder veranlasste und auf diese Weise im kollektiven Gedächtnis überlebte, bis der unverlässliche Autor des Nibelungenlieds das Ereignis in einem raffinierten Kunstgedicht beschrieb.
Die Rationale Philologie leugnet die Möglichkeit, Sagenstoffe ohne Schriftlichkeit durch Zeit und Raum zu vermitteln. Dieses Erklärungsmodell beruht auf dem entgegengesetzten Postulat: Sagen können nur vom Buchstaben zum Auge vermittelt werden. Die Schrift kann von der Ikonographie unterstützt werden, aber ohne Schrift gehen Sagen zugrunde und sollten deshalb eher als Legenden, das heißt „zu lesende Geschichten“, bezeichnet werden. So heißen Sagen in den Ländern, die auf der Erbschaft des Römischen Reichs bauen, vgl. fr. légende, span. leyenda, ital. leggenda, engl. legend.
Die Rationale Philologie lässt sich nicht nur auf die Nibelungensage, sondern auch auf die Lombardensage und die Lancelotsage anwenden, vgl. P. Hv. Andersen-V.:
- Fra viniler til Vedels ‘Gullandske Krønike’, en tusindårig vandring, in: Renæssanceforum 4 (2008) [Onlinepublikation, 30 Seiten]
- Mourir dedans ou dehors, voilà la question. Quelques réflexions sur la légende des Nibelungen, in: Études Médievales 9-10 (2008), S. 30–41
- La mythologie de Snorri : renaissance ou création poétique ?, in: Mythes et mythologies, Actes du colloque international des 6, 7 et 8 mars 2008 à Amiens, hrsg. von Danielle Buschinger, Amiens 2009 (= Medievales 45), S. 1–13
- Wie Melusine den Drachen der Nibelungensage verdrängte, in: Fabula 50 (2009), S. 227–246
- Der lautlose Weg zur Walküre: von ‘Nibelungenlied’ zu ‘Prosaedda’, in: Brathair 9,1 (2009), S. 129–158 [Onlinepublikation]
- Die Lancelot-Sage im Licht der rationalen Philologie, in: Artusroman und Mythos, hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl & Matthias Däumer, Berlin / New York 2011 (= Schriften der Internationalen Artusgesellschaft Sektion Deutschland / Österreich, Bd. 8), S. 449–465
- The Christian Signification of the Ramsund Carving, in: Samfundet Sverige-Island (2015, Homepage 2017 geschlossen; seit 2021 auf diesem Portal) [nur als Onlinepublikation]
Der Rationalen Philologie zufolge kann der Autor des Nibelungenlieds nur durch ein Textzeugnis wie die Epitoma chronicarum des Prosper Tiro von Aquitanien Kenntnis vom rheinischen Burgundenreich und dessen König gehabt haben. Diese Chronik kombinierte er allem Anschein nach mit dem Waltharius aus dem 10. Jahrhundert, und hier wird das rheinische Königreich zum ersten Mal mit einer Hauptstadt versehen, und zwar Worms. Da die Burgunden zwischen dem 5. und dem 10. Jahrhundert die Rheingegend verlassen hatten und dort von Franken ersetzt worden waren, wird der König von Worms im Waltharius als Franke bezeichnet. Der Dichter des Nibelungenlieds verdeutscht seinen Namen zu Gunther, lässt ihn weiterhin in Worms regieren, aber korrigiert die Volksbezeichnung zu Burgunden. Um 1200 nannten sich die Anwohner des Rheins nicht mehr Franken, sondern einfach Deutsche. Doch der Kaiser konnte sich als König von Burgund als Nachfolger des Gundicharius betrachten und hatte deshalb große Ähnlichkeit mit dem Gunther des Nibelungenlieds, obwohl er seine Hauptstadt nicht nach Worms verlegt hatte.
Hauptvertreter der Nibelungensage
Von der Entstehung des Nibelungenlieds bis zu seiner modernen Rezeption, die mit der Wiederentdeckung des Gedichts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, entstanden neun verschiedene Fassungen der Sage: drei in Island, zwei in Deutschland und Dänemark, eine in Norwegen und Schweden. Hinzu kommt eine färöische Variante. Sie ist noch jünger als die ersten modernen deutschen Bearbeitungen der Sage, zählt aber zur Gruppe der älteren Fassungen, weil sie im Gegensatz zu den vielen deutschen Nibelungentexten des 19. Jahrhunderts auf dem Mündlichkeitspostulat beruht. Einige anonyme Autoren Fassungen lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit oder wissenschaftlicher Gewissheit identifizieren.
- Geraldus: Waltharius (W) (Elsass, 965–991, Latein)
- Konrad: Nibelungenlied (NL) (Traismauer, 1200–1205, Mittelhochdeutsch)
- Konrad: Klage (K) (Traismauer, 1200–1205, Mittelhochdeutsch)
- Snorri Sturluson: Prosa-Edda (PE) (Reykholt, 1220–1230, Altisländisch)
- Anonym: Lieder-Edda (LE) (Island, 1220–1240, Altisländisch)
- Anonym: Rosengarten zu Worms (R) (Süddeutschland, 13. Jh., Mittelhochdeutsch)
- Anonym: Thidekssaga (TS) (Bergen, 2. Hälfte des 13. Jh., Altnorwegisch)
- Anonym: Völsungasaga (VS) (Island, 2. Hälfte des 13. Jh., Altisländisch)
- Anonym: Didrikskrönikan (DK) (Stockholm, um 1450, Altschwedisch)
- Anonym: Hürnen Seyfrid (HS) (Nürnberg, 1530, Frühneuhochdeutsch)
- Anders Sørensen Vedel: Grimildballade (GB) (Ribe, 1580–1591, Dänisch)
- Jon Jakobsen Venusin: Hvenische Chronik (HK) (Kopenhagen, März 1603, Dänisch)
- Anonym: Der Gehörnte Siegfried (GS) (Norddeutschland, um 1657, Neuhochdeutsch)
- Johan Henrik Schrøter: Sjurdlied (SL) (Färöer, 1817, Färöisch)
Texte mit Verwandtschaft zur Nibelungensage
- Anonym: Nornagest-Saga (NG) (Island, um 1300, Altisländisch, 12 Kapitel in Prosa mit 28 Strophen) → Rafn 1829 (altisl.) (Transkription); Kershaw 1921 (engl., Transkription); Hardmann 2011 (altisl. und engl.; Transkription)
- Anonym: Heldenbuchprosa (Straßburg, um 1477, Spätmittelhochdeutsch) → Prüss um 1479 (Abbildung des Erstdrucks) = Keller 1867 (Abdruck)
- Anders Sørensen Vedel: Sivard Snarensvend ( Ribe, 1575–1591, Dänisch) → Syv 1739 (dän.); Grimm 1811 (dt.); Grundtvig 1853 (dän., Erstdruck von 1591 und zwei jüngere Aufzeichnungen); Rubow 1921 (dän., Transkription)
- Anonym: Sivard und Brynild (Dänemark, 1575–1590, Dänisch) → Grimm 1811 (dt.); Grundtvig 1853 (dän., Erstdruck von 1657 und vier Aufzeichnungen, davon eine von der Zeit um 1580)
- Anonym: Frændehævn (Dänemark, 1575–1590, Dänisch) → Grimm 1811 (dt.); Grundtvig 1853 (dän., Erstdruck von 1657 und zwei Aufzeichnungen, davon eine von der Zeit um 1580)
- Anonym: Ritter Löwhardus (LH) (Norddeutschland, um 1657, Neuhochdeutsch) → wahrscheinlich zusammen mit dem Gehörnten Siegfried entstanden
- Johan Henrik Schrøter: Nornagestballade (Färöer, 1818–1851, Färöisch) → Lyngbye 1822 (fär., Erstdruck = Ab); Hammershaimb 1851 (fär., Zweidruck = D); Kershaw 1921 (engl., Transkription); Matras 1951 (Transkription, vier Fassungen aus dem Zeitraum 1818–1851 = Aa, B, C, D)
- Anonym: Sigurd Svein (Norwegen, um 1850, Neunorwegisch) → Landstad 1853 (norw., Erstdruck)