Hvenische Chronik

Die Hvenische Chronik (HC) ist ein Prosamärchen von 1603, das als Schüsselerzählung über die dänische Gegenwart gelesen werden kann. Wie in der Grimildballade spielt die Handlung auf der kleinen Öresundsinsel Ven, wo der Astronom Tycho Brahe von 1576 bis 1597 verweilt hatte. Der Autor des Märchens, Jon Jakobsen, beanspruchte die Insel als Geburtsort und hatte Horazens Beinamen Venusinus angenommen, eine doppelte Anspielung auf Ven und Venusia, die Geburtsstadt des italienischen Dichters. Der Originaltitel Om Hueen mellum Sielandt oc Schaane (‚Von Ven zwischen Seeland und Schonen‘) verweist auf die zentrale Stellung des dänischen Dichters im Konflikt zwischen dem auf Seeland geborenen König Christian IV. und dem Astronomen aus Schonen.

Kurzbeschreibung

  • Beziehung zur Nibelungensage: fast das ganze Märchen
  • Überlieferung: 2 Handschriften (K, S) → Beschreibungen: Abrahamson 1812, S. 383 (K), Molbech 1843, S. 138 (S), Grundtvig 1853, S. 37f (K), Grundtvig 1862, S. 769f (S), Jiriczek 1892, S. v–vii (K, S), Krarup 1935, S. 108 (K), Andersen 2007, S. 111–117 (K, S), Andersen 2009, S. 255–259 (S)
  • Online-Überlieferung:
  • Titel: Om Hueen mellum Sielandt oc Schaane (HCS 1r), Om Hueen imellem Sielandt og Skaane (HCK 1r), hvenske Krønike (Abrahamson 1812, S. 383, nach Vedel 1591, Bl. E1r: Huenske Chrønicke = 31619, Bl. E5r: huænske krønicke), Hvenische Chronik (Grimm 1829, S. 305f)
  • Verfasser: Jon Jakobsen Venusinus, in dänischer und deutscher Forschung als Venusin bekannt
  • Entstehungszeit: 26.–27. März 1603
  • Entstehungsort: Kopenhagen
  • Sprache: Dänisch
  • Länge: ca. 5000 Wörter
  • Form: Prosa
  • Erstdruck: Müller 1818 (K, kürzend)
  • Online-Ausgaben: Grundtvig 1853 (K), Jiriczek 1892 (S), Andersen 2006 (S, mit modernisierter Rechtschreibung)
  • Maßgebliche Ausgabe: Jiriczek 1892 (HC 1–2813 = HCS 1r–15v)
  • Online-Übersetzungen: Raszmann 1858 (dt., nach K), Beauvois 1867 (fr., nach K), Keller 2007 (engl., nach S)
  • Hauptquelle: Grimildballade
  • Nebenquellen: Rosengarten zu Worms, Didrikskrönikan, Hürnen Seyfrid, Wandmalerei des Wormser Rathauses, Melusina-Holzschnitt im Buch der Liebe, Saxo Gesta Danorum, Petreius Umbra Saxonis, lateinische Historiographie
  • Rezeption: Sigurdlied
  • Beschreibung: Universal-Lexikon 2012

Überlieferung

  • S: Stockholm, Kungliga Biblioteket, K 23. Die Aufzeichnung, die sich heute in Stockholm befindet, gehört zu einem Sammelband mit drei ursprünglich selbständigen Papierhandschriften im Quartformat. Die drei Teile haben jeweils 80, 18 und 16 unpaginierte Blätter und enthalten vier verschiedene dänische Texte aus dem Zeitraum 1521–1611. Die Hvenische Chronik bildet den letzten Teil des Bandes. Der Text füllt 30 Seiten. Das letzte Blatt ist leer. Der ganze Text ist von derselben Hand eingetragen. Eine jüngere Hand hat Verbesserungen vorgenommen. Sie fügt Interpunktionszeichen, vergessene i-Punkte und ó-Striche hinzu, frischt undeutliche Buchstaben auf und ändert ihre Form. Die Nachträge erfolgten in zwei Etappen mit verschiedener Tinte, jedoch anscheinend von derselben Hand. Die Aufzeichnung wurde zunächst von Svend Grundtvig (1862, S. 769) in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts datiert. Jiriczek (1892, S. vi) hielt sie für etwas älter, jedoch für eine Abschrift des Originals von 1603. Andersen (2009, S. 255f) entdeckte, dass der Text mit einem charakteristischen V-Zeichen unterzeichnet ist, das auch nach dem 1601 von Venusin vollendeten Gedicht Urania Titani (‚Urania an Titan‘) zu finden ist. Es muss sich also in beiden Fällen um Autographen handeln. Die vielen Lesarten der Hvenischen Chronik, die auf den ersten Blick wie nachlässige Schreibfehler aussehen, können sämtlich als absichtlich betrachtet werden. Ein aufschlussreiches Beispiel liefert ein Hapax. Ranche macht sich durch eine schwulstige Rede die Bevölkerung thilgefeldig (HC 2619). Der Kontext zeigt, dass er ihre Sympathie gewinnt, aber er macht sie zugleich dienstwillig. Das Hapax ist deshalb als konstruiertes Adjektiv aus tilgenegen (‚zugeneigt‘) und gefeldig (‚gefällig‘) zu verstehen (vgl. Andersen 2009, S. 256). Das bemerkenswerteste Beispiel für eine absichtliche Fehlschreibung ist die Lesart Dammarck (HC 283) statt der zu erwartenden Schreibung Danmarck. Die hart umkämpfte Insel, die zum Schluss vom lasterhaften Riesengeschlecht aufgegeben wird, ist einerseits mit Dänemark gleichzusetzen, andererseits als ein Schlachtfeld für Frauen zu deuten. Im abschließenden Kampf sind zwei weibliche Gestalten Chremild und Huenild miteinander konfrontiert. Der Schauplatz ist also ein ‚Feld‘ (dän. mark) für ‚Damen‘. In seinen wissenschaftlichen Abhandlungen interessierte sich Venusin eingehend für die Etymologie der dänischen Nationsbezeichnung und schlug in seinem Märchen die bislang lustigste Herkunft vor. Eine dritte Schreibung bestätigt seine humoristische Absicht. Laut dem Epilog war das Märchen aus dem Lateinischen übertragen worden, und die postulierte Vorlage wird als ett gamble mukenede oc røffne papir (HC 288) beschrieben. Unmittelbar versteht man „ein altes, verschimmeltes und zerrissenes Papier“, erwartet aber für das letzte Partizip ein e in der ersten Silbe und eine Neutrumendung, etwa reffnede o.ä. K hat hier die richtigere Form refvit. Die auffällige Schreibung sollte die Gedanken auf das derbe Nomen røf (‚Arsch‘) bringen. In einem Kompositum mit papir war die Form røffue zu erwarten. Da die Buchstaben n und u keinen besonderen graphischen Unterschied aufwiesen, wurde die vermeintliche Vorlage also als „ein altes, verschimmeltes Arschpapier“ beschrieben (vgl. Andersen 2012, S. 668). Nach dem Epilog entstand die vorliegende dänische Fassung des Märchens am 26. und 27. März 1603. Das muss das Datum des Originals sein. Die frühe Geschichte der Stockholmer Handschrift ist unbekannt, lässt sich aber mit einiger Sicherheit rekonstruieren. Am 29. Juni 1606 erwähnte Hans Stephensen, Professor der Dialektik an der Universität von Kopenhagen, eine dunkle Fabelaffäre, die sein Kollega Venusin ausgelöst hatte (Rørdam 1868–1874, S. 562). Er spielte vermutlich auf die Hvenische Chronik an. 1608 wurde er Venusins Nachfolger als Vorsteher der königlichen Schule in Sorø und kann dort die Originalaufzeichnung des Märchens vor Ort gefunden haben. Er scheint sie seinem Sohn, dem Historiker Stephan Hansen Stephanius, vermacht zu haben. Letzterer wurde königlicher Historiograph und kritisierte 1645 in äußerst scharfen Wendungen seinen Vorgänger Venusin (II, S. 8, 36). Er kann zu diesem Zeitpunkt die Abschrift veranlasst haben, die in Dänemark geblieben ist und im Kopenhagener Exemplar vorliegt. Nach Stephanius‘ Tod 1650 verkaufte seine Witwe einen großen Teil seiner Sammlung an den schwedischen Staatsmann Magnus Gabriel de la Gardie, der die Bücher und Handschriften nach Stockholm brachte (vgl. Andersen 2012, S. 672–674). Hier gelangten sie in das 1666 gebildete Antikvitetskollegium. Dort wurden die dänischen Handschriften zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Signatur K versehen. 1720 ist die Hvenische Chronik zum ersten Mal in einem handschriftlichen Katalog verzeichnet. 1780 wurde der Sammelband der Königlichen Bibliothek übergeben. 1842 wurde die meisten Exemplare der dänischen Reihe vom Historiker Christian Molbech eingesehen (vgl. 1843, S. 138). K 23 wurde um 1860 ein erstes Mal nach Kopenhagen geschickt, damit Grundtvig die beiden Aufzeichnungen miteinander kollationieren konnte (vgl. Grundtvig 1862, S. 769). Um 1890 wurde die Stockholmer Handschrift ein zweites Mal ausgeliehen, weil der junge deutsche Germanist Otto Luitpold Jiriczek sich entschlossen hatte, die Hvenische Chronik kritisch zu edieren (vgl. 1892, S. iii).
  • K: Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, Addimenta 107 fol. Die Kopenhagener Aufzeichnung ist eine Papierhandschrift im Folioformat. Sie besteht aus sieben Blättern. Schon bei der ersten Kollation der beiden Handschriften entdeckte Grundtvig an einer Fehlschreibung, dass K eine direkte Abschrift von S ist. Das Wort mukenede (‚verschimmelt‘) steht unter einem von der vorigen Zeile tief herabgezogenen Langstrich, so dass man geneigt ist, muſkenede zu lesen (HC 286). Dieses unverständliche Wort veranlasste die Konjektur mussædet (‚mauszerfressen‘) (vgl. Grundtvig 1862, S. 770). An einer anderen Stelle ist wegen der Wiederholung des Verbs skulle am Anfang zwei aufeinander folgender Zeilen die erste ausgefallen (HC 511) (vgl. Jiriczek 1892, S. viii). Abgesehen vom Wegfall vereinzelter Wörter und in einem weiteren Fall einer Halbzeile (HC 279) enthält K eine vollständige Abschrift. Grundtvig, der sie unter Durchführung seiner gewöhnlichen Normalisierungsprinzipien (vgl. 1853, S. vif) abdruckte, bezeichnete sie als „schleuderhaft“ (skjødesløs) (1862, S. 769). Jiriczek schloss sich vorbehaltlos diesem Urteil an und übertrug es wörtlich, indem er wiederholt von der „Schleuderhaftigkeit“ der Abschrift sprach (1892, S. viii). Beide Forscher hielten K für eine Aufzeichnung aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Das Vorhandensein des Folianten in Kopenhagen spricht jedoch eindeutig dafür, dass die Abschrift früher zustande kam. Zwischen 1650 und 1660 kamen zahlreiche dänische Handschriften nach Schweden, entweder durch Verkauf oder als Kriegsbeute. Da S wahrscheinlich in den Besitz des Historikers Stephanius (†1650) gelangte, dürfte K schon zu seinen Lebzeiten entstanden sein. Zwei bewusste Veränderungen sprechen für ihn als Urheber der Abschrift. Der Name der weiblichen Hauptfigur wird in S durchgängig mit hartem Anlaut geschrieben, meist Chremild, nur gelegentlich auch Chremeld, Chremiild oder Chremillt. K verändert überall in Gremild. Das ist die Form, die Anders Sørensen Vedel in seiner Saxo-Übersetzung benutzt hatte (1575, S. cclxxviii). Im Hundertballadenbuch finden wir konsequent die Namensform Grimild, die auf den 1514 erstmals in Paris edierten Originaltext der Gesta Danorum zurückgeht. Saxo nannte die Verräterin Grimilda. Diese Namensform finden wir auch bei Stephanius (1645, I, S. 239), der die Stelle ausführlich kommentiert (II, S. 230). In der Abschrift der Hvenischen Chronik wurde der harte Anlaut in direkter oder indirekter Anlehnung an Saxo in ein weiches g korrigiert. Als Urheber für diese Veränderung kommt gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts in erster Linie der „Saxonide“ Stephanius in Betracht. Der wichtigste Zusatz der Abschrift ist die abschließende Bemerkung, dass Venusins Vater in Landskrona „Propst und Pfarrer“ (K: Provist og Sognepræst) war. In S wird dieser Geistliche nur als Pfarrer bezeichnet. Stephanius kannte natürlich die offizielle Herkunft seines Vorgängers als königlicher Historiograph, denn sein eigener Vater war als Professor der Universität von Kopenhagen sechs Jahre lang Venusins Kollege gewesen. Die frühe Geschichte von K ist unbekannt. Erst 1812 wird ihre Zugehörigkeit zur Kopenhagener Universitätsbibliothek durch eine gedruckte Notiz belegt (Abrahamson 1812, S. 383). Sie trug damals schon die heutige Signatur. Die Addimenta-Sammlung war gegen 1770 durch Schenkungen von Professoren an die Universitätsbibliothek entstanden (vgl. Krarup 1929, S. 13). Es ist unbekannt, von wem Addimenta 107 fol. stammt. 1938 wurden die Sammlungen der Universitätsbibliothek unter Beibehaltung der ehemaligen Signaturen in die Königliche Bibliothek eingegliedert und haben ihren Standort nicht mehr gewechselt.

Zusammenfassung

Der Text lässt sich in fünf Teile ungleicher Länge gliedern. I: Die folgenschwere Erbschaft (1–25). II: Die tragische Ehe (26–102). III: Die blutige Hochzeit (103–2019). IV: Der kaltblütige Mord (2220–2619). V: Frieden und Freiheit (2620–285). Epilog: Textgenese (286–2813). Die Namen werden im Folgenden nach der dominierenden Form vereinheitlicht.

Von Ven zwischen Seeland und Schonen

I: Nøgling, ein Riese, hatte zwei Söhne, Hogen und Folgmar, eine Tochter, Chremild. Er besaß einen Zauberschlüssel zu einem Schatz im Hammersberg, vermachte ihn Hogen und befahl ihm, seine Geschwister mit dem Erbe zu versorgen. Es gelang Hogen nicht, seine gierige Schwester zu befriedigen (1–25).

II: Als Chremild groß wurde, beschloss Hogen, ihr einen Ehemann zu finden. In Worms war ein Riese namens Sigfrid Horn. Bis auf eine Stelle im Rücken war er unverwundbar. Die Hornhärte seiner Glieder verdankte er einem Bad im Brunnen der Waldfrau Melusina. Viele reisten damals aus dem Norden zum königlichen Lustgarten in Worms und kämpften dort um die Zärtlichkeiten der Frauen. Hogen fuhr mit seinen beiden Geschwistern nach Worms, und Chremild wurde ins Frauenzimmer der Königin aufgenommen, als wäre sie eine Fürstin gewesen. Fremde hielten sie für die Tochter des Königs. Auch Theodoricus Veronensis nahm mit seinen gotischen Kriegern am Turnier teil. Vor Ort arrangierte Hogen eine Heirat zwischen Chremild und Sigfrid Horn, und der König trug die Kosten für die Hochzeit, die in Worms gehalten wurde. Nach den Feierlichkeiten zogen die Geschwister mit Sigfrid Horn nach Dänemark und ließen sich auf der Insel nieder, die später Ven genannt wurde. Dort teilten sie unter ihnen die vier Schlösser, die Nøgling hatte bauen lassen (26–51). Bald beschwerte sich Sigfrid bei Hogen darüber, dass Chremild so stark war, dass sie ihn nachts band. Die beiden Schwäger vereinbarten, in der Nacht Betten zu tauschen. In Sigfrids Zimmer band Hogen seine Schwester an Händen und Füßen, fesselte sie an einen Pfahl und forderte Sigfrid auf, sie auszupeitschen. Danach gab Chremild ihren Widerstand auf. Doch in der anderen Schlafkammer hatte Sigfrid Venus‘ Spiel mit Hogens Frau Gluna getrieben. Um sich zu rächen, lockte Hogen seinen Schwager zu einer Quelle, tötete ihn dort und schickte seiner Schwester den abgeschlagenen Kopf. Sie fiel in Ohnmacht und ließ ihren Mann bei ihrem Schloss Carheideburg bestatten. Beim Begräbnis klagte sie ihre Brüder an und gewann viele Anhänger. Hogen ergriff die Flucht und stach in See Richtung Schonen. Auf einem hohen Hügel baute er ein Haus mit Aussicht auf das Land seiner Väter. Folgmar ging nach Schweden in Krieg (52–102).

III: Nach vier Jahren heiratete Chremild einen anderen Mann und lud Freunde und Verwandte zu ihrer Hochzeit ein. Eine Meeresfrau prophezeite Hogen Unheil, wenn er die Einladung annähme, und auch seine Frau riet ihm die Reise ab. Er ging trotzdem zum Strand, wo ihm die Meeresfrau die Prophezeiung wiederholte. Er schlug ihr den Kopf ab und fand einen Fährmann, den er ebenfalls tötete, weil er die Überfahrt ablehnte. Deshalb ruderte Hogen selbst zur anderen Küste und traf sich dort mit Folgmar wieder. Chremild empfing ihre Brüder freundlich. Sie schickte Hogen nach Noreburg, Folgmar nach Carheideburg. Auf diesen Schlössen lagen ihre Krieger im Hinterhalt. Sie begleitete selbst Hogen und ließ nach dem Eintritt ihrer Brüder in die Schlösser die Tore hinter ihnen schließen. Folgmar kämpfte tapfer und tötete 70 Gegner, Hogen noch mehr. Chremild ging nach Carheideburg und erzählte Folgmar, Hogen sei erschlagen. Da ertrank ihr Bruder im Blut der Toten. Chremild kehrte nach Noreburg zurück und fragte Hogen, wo seine Unbesiegbarkeit herrühre. Er erklärte, sie sei ihm von den Göttern gewährt, solange er im Kampf nicht gefallen sei. Da streute Chremild Erbsen auf Ochsenhäute im Ausgang und ließ das Tor aufmachen. Im Hinausgehen wurde Hogen von drei Kriegern angegriffen, rutschte aus, so dass ein Knie den Boden berührte, und tötete trotzdem die Gegner (103–159). Nach dem Kampf holte er den Schlüssel, versteckte sich bis Mitternacht im Schatzberg und ging dann zum Grab seines Vaters. Er beschwor die Geister, und sie prophezeiten, er werde nie mehr seine Frau Gluna sehen. Vor seinem Tod werde er mit einer Jungfrau von Riesengeschlecht einen Sohn zeugen. Dieser werde sich an seiner Tante Chremild rächen. Sie übte gerade Zauber und erhielt ein ähnliches Orakel. Am folgenden Morgen suchten Folgmars Leute ihren Herrn und fanden nur Hogen. Da tauchte ein Greis namens Bjørn auf. Er hatte früher als Knabe in Nøglings und Hogens Dienst gestanden. Er erzählte ihnen von Folgmars Tod und Chremilds Orakel. Hogen sagte, er beabsichtige nicht, die Erde zu verlassen, und bat Bjørn, zu Chremild zu gehen. Hogen wollte die Leiche seines Bruders ausgeliefert haben. Da Bjørn Angst hatte, kehrte Hogen selbst nach Noreburg zurück und verhandelte mit seiner Schwester. Beim Begräbnis klagte er seine Schwester an und zog sich auf sein eigenes Schloss Synderburg zurück (1510–193). Da schickte Chremild eine schön gekleidete Dienerin zu Hogen, aber er erkannte ihre unadelige Herkunft an ihrem Benehmen und schickte sie unberührt zurück. Die Szene wiederholte sich am folgenden Tag. Das dritte Mal schickte Chremild die Jungfrau Huenild zu ihm. Sie bestand die Probe und ging mit Hogen ins Bett. Am Morgen erklärte er ihr, wie er sich rächen wollte. Kurz danach starb er. Chremild verweigerte ihm ein Begräbnis in ihrem Vaterland und schickte die Leiche zu Gluna in Schonen. So wurde Hogen in den schonischen Bergen begraben. Dort suchten seine Geister Gluna so lange heim, bis sie nach Norwegen floh. Nach ihrer Flucht wurde der Ort Glunesløff (‚Glunas Lauf‘) genannt (194–2019).

IV: Nach neun Monaten gebaren Huenild und Chremild je einen Sohn. Huenilds Kind wurde nach seiner Körpergröße Ranche (‚der Ranke‘) genannt, das andere Sigfrid nach Chremilds erstem Mann. Chremild lud Huenild in ihr Zimmer ein, und in der ersten Nacht vertauschte die Dienerin die beiden Neugeborenen. Kurz danach erstickte Chremild unwissend ihren eigenen Sohn im Bett ihrer Dienerin. Huenilds Sohn wuchs bis zu seinem 15. Lebensjahr bei Chremild auf und wurde dann von seiner leiblichen Mutter über die Missetaten seiner Tante aufgeklärt. Huenild zeigte ihm den Zauberschlüssel und stachelte ihn dazu auf, Chremild im Schatzberg verhungern zu lassen (204–2217). Ranche lud seine Tante zu einem Besuch im Berg ein und empfahl ihr, Proviant mitzunehmen. Da sie selbst nichts mitnehmen wollte, holte er drei Brote aus der Speisekammer und ließ sie unterwegs zu Boden fallen. Jedes Mal dachte Chremild nur ans Gold. Er prophezeite ihr, sie werde sich im Berg nach Brot sehnen. Nachdem er seine Tante zum Schatz geführt hatte, ging er selbst wieder hinaus, und sofort schloss sich der Berg über Chremild. Am folgenden Tag kehrte er zurück und klärte sie über seine wahre Herkunft auf. Sie beteuerte ihre Unschuld und versuchte ihn vergeblich zu erweichen. Am dritten Tag war sie tot. Er schleppte ihre Leiche aus dem Berg und erklärte seinen Hausgenossen, Chremild schlafe süß neben dem Hammersberg. Als die Bevölkerung die Leiche entdeckte, freute sie sich, von der Tyrannei befreit zu sein. Am Begräbnis drei Tage später hielt Ranche unter dem Schutz einer bewaffneten Leibwache eine Rede und schenkte den Anwesenden eine große Menge Gold, um sie für sich zu gewinnen (2218–2619).

V: Vier Jahre später ließ er zwölf starke Krieger aus Schonen holen, um seine Festungen zu verstärken. Mit ihnen übte er sich zwei Jahre lang in der Kriegskunst, kehrte im dritten Jahr in den Berg zurück, gab seiner Mutter eine Menge Gold, warf den Schlüssel ins Meer und reiste mit seinen Leuten zu den Goten in Italien. Huenild zog mit ihrer freiheitlichen und tugendhaften Regierung viele neue Einwanderer an, und die Insel wurde noch zu ihren Lebzeiten nach ihrem Namen Huen genannt. Nach ihrem Tod griff Hogens und Glunas Sohn Charlhøvde das Land an. Die Bevölkerung setzte sich zur Wehr und tötete ihn. Damit nahm Nøglings Geschlecht ein Ende oder gab zumindest das Land Dänemark auf, denn Sigfrid Ranche kehrte niemals aus Italien zurück (2620–285).

Epilog: „Diese Geschichte ist in Nosaby am 26. und 27. März 1603 nach einem alten verschimmelten und zerrissenen Papier, das auf Latein war, auf Dänisch ausgeschrieben, und das Papier soll angeblich Magister Jon Jakobsen gehört haben, demjenigen, der jetzt Professor in Kopenhagen ist. Er wurde auf Ven geboren, und sein Vater war später viele Jahre Pfarrer in Landskrona.“ (286–2813)

Quellen und Textgenese

  • Im Epilog wird das vorliegende dänische Märchen als Übersetzung aus dem Lateinischen beschrieben. Die Übertragung wird genau datiert und lokalisiert, aber der Übersetzer bleibt anonym. Dagegen wird der vermutete Besitzer der Vorlage mit Titel, Namen, Beruf, Geburtsort und Ahnentafel vorgestellt. Durch die ausführliche Beschreibung der lateinischen Papierhandschrift wird angedeutet, dass der Text auf Ven vor der Geburt des späteren Besitzers aufgezeichnet wurde.
  • Bei seiner Wiederentdeckung zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Märchen sofort mit der Quelle identifiziert, die Vedel in der Einleitung der Grimildballade recht ausführlich zusammenfasst und als „die hvenische Chronik“ (den Huenske Chrønicke) bezeichnet hatte (Vedel 1591, Bl. E1r = 31619, Bl. E5r: huænske krønicke). Der Historiker berief sich in Wirklichkeit auf die Didrikskrönikan, aber der Betrug wurde erst nach 415 Jahren der Öffentlichkeit enthüllt (Andersen 2006). Doch schon ab 1602 war Vedel von Venusin durchschaut worden.
  • Im Hundertballadenbuch manipulierte der Jütländer eine andere Quelle. Seine erste sagengeschichtliche Ballade handelt von der Auswanderung der Lombarden aus Dänemark (Vedel 1591, Bl. C2r–C4v = Grundvig 1853, S. 324–326). Um diese Herkunft zu beweisen, berief sich Vedel auf Saxo, den Urheber dieser Hypothese (Gesta Danorum VIII 13), aber auch auf ein damals unbekanntes volkssprachliches Gedicht, aus dem er 18 Verse zitierte und das er „die gotländische Chronik“ (den Gudlandske Krønicke) nannte (Vedel 1591, Bl. C2r = Grundvig 1853, S. 324). Im Zitat tragen viele Wörter sonderbare um-Endungen und sehen deshalb unmittelbar sehr altertümlich aus, waren aber leicht verständlich für jeden gewöhnlichen Dänen, ja jeden Skandinavier, denn abgesehen von den Endungen war die Sprache mit dem zeitgenössischen Standarddänisch identisch. Das Gedicht stammte aus einem lateinischen Werk von 1579, in dem ein schonischer Pfarrer namens Niels Pedersen die Geschichte Skandinaviens seit dem Sündenfall beschrieben hatte. In einer Abschrift nannte Venusin den Pfarrer Petreius und dessen Werk Umbra Saxonis (‚Saxos Schatte‘). Diese Bezeichnungen haben sich heute eingebürgert. Venusins Bearbeitung erschien später in Leipzig unter einem anderen Titel (Liebe 1695), die Originalfassung erst vor wenigen Jahren (Andersen 2012).
  • Um den frühen Teil seiner Geschichte zu unterstützen, berief sich der phantasievolle Pfarrer auf gotische Denkmäler, die er angeblich auf Gotland gefunden hatte. Er zitierte drei davon in der archaisierenden Sprache, die er selbst erfunden hatte und die er als gotisch präsentierte. Venusin ließ die gotischen Denkmäler weg und resümierte deren Inhalt auf Latein, so dass sie zumindest nicht auf sprachgeschichtlicher Grundlage als unecht angeprangert werden konnten. Saxos Hypothese über die Herkunft der Lombarden unterstützte Petreius mit einem Gedicht von 42 Versen, welche die Auswanderung der Lombarden aus Nordjütland über Schonen und Gotland nach Italien besangen. Die Originalhandschrift gelangte bald nach ihrer Entstehung in Vedels Hände, und er schrieb eigenhändig das Gedicht ab und gab im Hundertballadenbuch einen Auszug heraus. Die vollständige Fassung erschien erst 1603 als Teil einer größeren Geschichtskompilation, also zeitgleich mit der Entstehung der Hvenischen Chronik. Diese Veröffentlichung war vielleicht von Venusin veranlasst worden (Andersen 2012, S. 663). Auf jeden Fall war das Gedicht noch unbekannt, als Vedel seinen Auszug herausgab.
  • Im Mai 1602 wurde Venusin nach dem plötzlichen Tod des Historikers Niels Krag zum königlichen Historiographen ernannt und übernahm im August eine größere Handschriftsammlung, die seinem Vorgänger gehört hatte. In einem Folianten entdeckte er eine Abschrift von Petreius‘ lateinischer Geschichtskonstruktion und damit auch das pseudogotische Gedicht, das Vedel mit irreführender Quellenangabe zitiert hatte. Am 16. August schrieb Venusin an Vedels Schwiegersohn Ægidius Lauridsen, er werde möglichst bald persönlich nach Ribe/Ripen reisen (Rørdam 1874–1877, S. 288). Er scheint jedoch nicht diese Reise durchgeführt zu haben. Mit dem Brief wollte er offensichtlich nur Druck auf Vedel ausüben, damit er ihm den Text enthüllte, den er im Hundertballadenbuch als „Hvenische Chronik“ bezeichnet hatte (vgl. Andersen 2007, S. 291f). Das Manöver gelang, denn Venusin kam in den Besitz der Didrikskrönikan und verwertete diesen Text reichlich in seinem Märchen.
  • Als Pfarrer in Kopenhagen hatte er eine persönliche Auseinandersetzung mit einem Magisterkandidaten aus Nordjütland Niels Mikkelsen Ålborg gehabt, der 1589 an der Universität ein umstrittenes Exorzismusritual verteidigte (vgl. Andersen 2012, S. 663f). Venusin war zu diesem Zeitpunkt von seiner Kanzel verwiesen worden und riskierte das Gefängnis, weil er einige Monate früher bei einer Taufe die obligate Teufelsvertreibung unterlassen hatte (vgl. Andersen 2007, S. 42). Ende 1602 konnte er sich endlich durch eine ausgeklügelte List rächen. Er schickte dem Jütländer, der inzwischen den Magistergrad erworben hatte und zum Pfarrer von Nosaby in Ostschonen ernannt worden war, eine Abschrift von Umbra Saxonis und forderte ihn auf, den Text für Kanzler und König ins Dänische zu übertragen. Mikkelsen ging in die Falle und fertigte in kurzer Zeit eine Kurzfassung über „Dänemarks Urbeginn und Herkunft“ (Danmarks første begyndilse och herkomst) an und schmückte sein Titelblatt mit anmutigen mehrfarbigen Blumendekorationen aus. Schon auf dem Titelblatt rühmte sich der nichtsahnende Pfarrer, den Text aus dem Lateinischen übertragen zu haben, und stellte sich mit Magistertitel und vollem Namen vor (Abbildung: Andersen 2012, S. 798). Venusin bat ihn offenbar um einige Korrekturen, denn in einer eigenhändigen Zweitfassung stellte sich der Übersetzer als Pfarrer von Nosaby vor und verzichtete auf den Universitätstitel, den er in Venusins Augen nicht verdient hatte. In beiden Exemplaren, die sich heute in Kopenhagen (GKS 2415 4to) und Västerås (Stadsbibliotek, Bb 25) befinden, erklärt der Pfarrer in einer Vorrede, wie Niels Pedersen um 1547 auf Gotland alte Bücher über Goten und Kimbern sammelte und wie er selbst „ein schönes Buch auf Latein […] von einem guten Freund“ (en skøn bog paa latin […] aff en god wen) (Andersen 2012, S. 634) bekommen hatte. Er betonte, er habe nur das Bemerkenswerteste übersetzt. Der Text beginnt mit einem gotischen Prosadokument über die Ankunft von Noahs Ururenkelsohn in Jütland 193 Jahre nach der Sintflut. Dagegen überging der Pfarrer das gotische Gedicht über die Lombarden und bedauerte in der korrigierten Zweitfassung, dass Vedel noch nicht sein Versprechen gehalten hatte, dem Volk in „einer verständlichen dänischen Chronik […] klaren und guten Bescheid“ (en beskedenlig dansk crønicke […] klar oc god besked) über die Nationalgeschichte gegeben hatte (Andersen 2012, S. 634).
  • Wegen dieser Übersetzung, die erst nach 410 Jahren im Druck erschien (Andersen 2012), ließen sich die Gelehrten der Neuzeit zum Narren halten und identifizierten den angeblichen Übersetzer mit dem schonischen Pfarrer (vgl. Andersen 2007, S. 153). Sie gingen in dieselbe Falle wie mancher Leser zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Der schonische Pfarrer geriet nämlich unter Verdacht, auf Venusins Veranlassung das Märchen von Ven übersetzt zu haben. 1614 wurde er für eine ganz andere Schrift der Ketzerei angeklagt und abgesetzt. Die Hetzkampagne gegen den rechtgläubigen Pfarrer war völlig unberechtigt. Sie wurde allem Anschein nach nur wegen seiner vermuteten Nahe zu Venusin eingeleitet. Zur Zeit der Absetzung war der eigentliche Verfasser des Märchens längst von der Oberfläche der Erde verschwunden und wurde also erst posthum für seine eigene Absetzung von 1588 gerächt. Alles wurde durch ein einziges Wort ausgelöst, und zwar die falsche Ortsangabe. Das Märchen war nämlich nicht in Nosaby, sondern in Kopenhagen entstanden.
  • Als Hauptquelle dienten die drei gedruckten Versionen der Grimildballade und die Prosaeinleitung. Im Nachhinein schuf Venusin den Text, der 1591 einen Titel bekommen hatte, aber damals noch nicht existierte. Der Dichter benannte sein Werk in Om Hueenn mellum Sielandt Oc Schaane (‚Von Ven zwischen Seeland und Schonen‘) um, aber aus praktischen und forschungsgeschichtlichen Gründen lohnt es sich, an Vedels Titel festzuhalten. Dank einer frühen Übersetzung der Grimildballade (Grimm 1811, S. 422) bürgerte sich die Bezeichnung des virtuellen Texts als „Hvenische Chronik“ schon in Deutschland ein, bevor das Märchen in Kopenhagen wiederentdeckt wurde.
  • Die Grimildballade erzählt nur von der Rache der Schwester an ihren Brüdern, weder von der Beweggründe der Titelheldin noch von der Zukunft der Insel nach ihrem Tod. Mit der oben vorgeschlagenen Gliederung des Märchens in fünf Akte ungleicher Länge entspricht die Handlung der Ballade nur Akt 3 und 4. In seiner Prosaeinleitung erklärt Vedel, Grimild sei in erster Ehe mit „Sigfred Horn“ verheiratet gewesen, der „bekanntlich im Heldenbuch erwähnt wird“ (Sigfried Horn, som videligen omtalis vdi Heldenbog) (Vedel 1591, Bl. E1r = 31619, Bl. E5r). Er meint allem Anschein nach den Rosengarten zu Worms, der um 1478 im Straßburger Heldenbuch erschien und bis 1590 vier weitere Auflagen erfuhr. In diesem Gedicht ist Siegfried nur mit Kriemhild verlobt, aber Vedel wusste von der Ehe durch die Didrikskrönikan und vermutlich auch durch den Hürnen Seyfrid. Der dänische Beiname des Helden ist auffällig. Er sieht auf den ersten Blick wie eine Notlösung aus, denn die dänische Sprache besitzt kein entsprechendes Adjektiv. Der Vokalismus des gewählten Nomens erinnert an die Inschrift, die seit 1493 unter dem Gemälde eines Riesen an der Außenwand des Wormser Rathauses zu sehen war. Der Lokalheld wurde hier nach einem zeitgenössischen Augenzeugen der hörnin Syfridt genannt (vgl. Boos 1893, S. 379). Vedel kam nie südlicher als Leipzig, wo er zwischen 1562 und 1565 als Hofmeister den vier Jahre jüngeren Aristokraten Tycho Brahe beaufsichtigte. Der Historiker sah also nie selbst das Wandgemälde mit dem Riesen. Dagegen hatte Venusin allem Anschein nach die beeindruckende Fassade des Rathauses in persönlichen Augenschein genommen, und zwar am 24. März 1580.
  • Nach einem zweijährigen Studium in Rostock erwarb der Däne am 2. Juni 1579 dank der Fürsprache seines Theologieprofessors David Chyträus bei Friedrich II. ein großzügiges jährliches Stipendium von 100 Talern (vgl. Schumacher 1759, S. 170). Mit diesem Geld verließ er zum ersten Mal die Ostseeregion. Er ließ sich am 19. Oktober desselben Jahres in Wittenberg immatrikulieren (Hartwig 1894, S. 285), setzte sofort seine Reise durch Böhmen, Österreich, Ungarn und Italien fort und kehrte erst im folgenden Frühsommer nach Wittenberg zurück. Dort promovierte er am 9. September 1580 zusammen mit 32 anderen Kandidaten zum Magister (vgl. Krafft 1580, Bl. A1r: cum 32 honestis et doctis viris). Venusins Reiseweg wurde in groben Zügen von seinem Kommilitonen Anders Bentssøn Dall, dem späteren Bischof von Oslo, in einer Gratulationsschrift beschrieben: „Nachdem er die Felder des glücklichen Böhmen durchwandert hatte, trat er unter das stolze Dach des österreichischen Hauses. Er durchreiste auch Ungarn, das sich – ach! – seiner Herrlichkeit erfreuen würde, wenn es nicht die bedauernswerte Beute des grausamen Türken wäre. Er überschritt die italienische Grenze über einen unsicheren Weg und ertrug große und harte Mühsal auf gefährlichen Straßen. Von dort kehrte er zu bekannten Gegenden zurück, um deine Kanzel zu sehen, Du ehrwürdiges Wittenberg.“ (Krafft 1580, Bl. A4r: Postquam fœlicis lustraverat arva Bohemi, / Austriacæ ingreditur tecta superba domus. / Transit et Ungariam, quovis splendore beatam, / ni foret heu Turco præda dolenda truci. / Italiæ ancipiti transgressus limina cursu, / magna tulit dubiæ duraque damna viæ. / Hinc ubi iam notas esset rediturus in oras, / viseret ut cathedram Leucoris alma tuam.)
  • Die einzelnen Namen der 32 anderen Magister sind nicht bekannt, aber einer davon war sein jütländischer Landsmann Hans Jakobsen Skierbeck (vgl. Helk 1974, S. 19). Er hatte am 3. Dezember 1579 in Bratislava/Preßburg ein Stammbuch angefangen. Der erste Eintrag ist von Venusin unterzeichnet, der sich als „Geselle bei einer langen Reise“ beschreibt (longinqui itineris socio) (Andersen 2009, S. 258). Es muss sich um die bevorstehende Reise durch Italien handeln, nicht um einen Abschiedsgruß, denn die späteren Einträge zeigen, dass Skierbeck denselben Reiseweg einschlug wie Venusin. Der Jütländer begab sich nach Venedig, Padua, Verona, Bergamo, Brixen, Zürich, Genf, Lausanne, Bern, Basel, Straßburg, Tübingen, Speyer, Worms, Mainz, Frankfurt, Jena und kam im Juni 1580 nach Wittenberg zurück. Von diesen Etappen bestätigt Venusin selbst in einem Brief den Aufenthalt in Basel (Rørdam 1868–1874, S. 524), und er befand sich am 9. April nicht allzu weit von Worms, denn an diesem Tag trug er sich ins Stammbuch des Kölner Arztes Arnold Manlius ein, allerdings ohne Ortsangabe. Zwei Wochen früher muss er in Worms seinen Landsmann Anders Krag getroffen haben. So lautet der Eintrag dieses Dänen in Skierbecks Stammbuch: „Ein sicherer Freund wird in einer unsicherer Lage erkannt. Dies schrieb der Däne Anders Krag aus Ribe am 24. März im Jahr 1580 in Worms an Hans Jakobsen Skierbeck in Erinnerung an eine in Armut entstandene Freundschaft.“ (NKS 396 8to, S. 160: Certus amicus in re incerta cernitur. In memoriam amicitiæ à poveris initæ scribebat Wormatiæ Andreas Kragius Rip[ensis] Danus Johan[ni] Jacobæo Schirbeccio Anno Chri[stiani] Dei M D LXXX die Martii 24). Krag zitierte hier ein altes Sprichwort (Cicero, De amicitia 64), das in Erasmus‘ Sprichwortsammlung Aufnahme gefunden hatte (Adagia 3405).
  • Später wurde Anders Krag an der Universität von Kopenhagen zum Professor der Physik ernannt und behielt diesen Lehrstuhl bis zu seinem Tod am 8. Juni 1600. Er erlag einer Laborvergiftung, vielleicht einem verschleierten Mord (vgl. Andersen 2009, S. 236–238). Venusin wurde sein Nachfolger. Weniger als zwei Jahre später starb Niels Krag, der ältere Bruder des Physikers, unter genauso ungeklärten Umständen. Venusin trat, wie bemerkt, die Nachfolge des Verstorbenen als königlicher Historiograph an und verfasste einige Monate nach dieser Ernennung die Hvenische Chronik. Zwischen den Todesfällen der beiden Brüder war ihr alter Freund Tycho in Prag gestorben, und ganz Europa flüsterte von Mord. Der Bischof von Bergen Anders Foss belegt in einem Brief vom 4. Januar 1602 das Gerücht, nach welchem der Astronom von seinen „Neidern, die er sogar dort am Hof gehabt hat“ (misundere, som han endog der ved hoffet har haft), vergiftet wurde (vgl. Andersen 2009, S. 27f, für eine ungenaue deutsche Übersetzung des Briefs, vgl. Mengel 1756, S. 195).
  • Mehr als ein halbes Jahrhundert später erklärte Pierre Gassendi in der ersten Tycho-Biographie, dass dieses „in Dänemark, Norwegen und sogar gewissen Teilen Deutschlands verbreitete Gerücht […] der Wahrscheinlichkeit entbehrt“ (rumor in Dania, Norvegia ac alicubi per Germaniam percrebuit […] verissimilitudine caret) (Gassendi 1654, S. 208). Der Franzose wusste damals nicht, dass dieses Gerücht offenbar auch England erreicht hatte: „Several conspiracy theories regarding his death have been aired, the first shortly after his death by William Shakespeare in the play Hamlet, published in 1603.“ (Kaare 2013) Diese kollektive Aussage stammt von dem anerkannten Forschungsteam, das 2010 die zweite Exhumierung des Astronomen vornahm. Die erste fand 1901 statt. In damals entnommenen Bart- und Haarresten ist seit 1993 wiederholt verdächtige Quecksilberkonzentrationen nachgewiesen worden. Deshalb hat die Mordhypothese wieder an Gewicht gewonnen, und verschiedene Feinde des Astronomen sind unter Verdacht geraten. Der Autor der Hvenischen Chronik ist heute der Hauptverdächtige. Diese dänische Fassung der Nibelungensage wurde vielleicht von einem Verbrecher begangen, der innerhalb von weniger als zwei Jahren drei Gegner beseitigt hatte, die Brüder Krag in Kopenhagen und ihren Freund Tycho in Prag. Der außergewöhnliche Entstehungskontext und das explosive Interpretationspotential des kleinen Märchens erklären zur Genüge, warum der Autor sich für die Anonymität entschied.
  • Venusin kannte den Rosengarten zu Worms und das Wandgemälde der Rheinstadt und kombinierte beides in der Vorgeschichte, mit der er die Grimildballade gleichsam auf Vedels Empfehlung versah. Der Märchendichter ließ nicht zufällig die Geschichte in Worms anfangen. Das ist der einzige konkrete Stadtname der Erzählung. Übrigens spielt der kurze Prolog über Nøglings Tod nicht unbedingt auf Ven. Am Anfang fokussiert Venusin auf Sigfrid und bezeichnet ihn als Riese. Er benutzt dabei das zweideutige Wort kempe, das sowohl mit ‚Held‘ als auch mit ‚Riese‘ übersetzt werden kann. Die Grimildballade gehört zum ersten Teil des Hundertballadenbuchs, dessen 26 Balladen Vedel selbst als alte Kempe Viser beschrieben hatte. In einem Vorwort zu diesem Teil erinnerte er daran, dass die Menschen in der Vorzeit viel größer waren (Vedel 1591, Bl. A3r = 31619, Bl. A5r). Diese Vorstellung geht auf die Bibel zurück (Gn 4,6). Saxo fand sie durch die Grabhügel der dänischen Landschrift bestätigt (Gesta Danorum Præfatio 3,0). In der Einleitung der Grimildballade stellt Vedel Hogens und Huenilds Sohn Rancke als den Begründer eines kempe-Geschlechts dar, ohne ausdrücklich zu erklären, was er damit meint. Erst im lateinischen Begleitgedicht beschreibt er eindeutig die ersten Bewohner der Insel als „Riesen“ (Giganteis … viris). In der Hvenischen Chronik kommt die Größe und Stärke des Geschlechts in der Szene zum Ausdruck, in welcher Ranche „einen grausam großen Stein […] leicht“ abwälzt (en grusame stor steen […] letteligen) (HC 228–11).
  • Es ist vorstellbar, dass Venusin bei der Schilderung des Kriegs auf der winzigen Öresundsinsel nicht nur das Wormser Wandgemälde im Kopf hatte, sondern auch François Rabelais‘ komische Riesen, die in Gargantua auf einem genauso kleinen Gebiet kämpfen wie Ven (vgl. Andersen 2007, S. 278). Der 1534 erstmals herausgegebene französische Roman war 1575 in Straßburg von Johann Fischart ins Deutsche übertragen worden, und Venusin hatte vielleicht diese freie deutsche Bearbeitung gelesen. Hier wird ein Mönch ausdrücklich mit dem Riesen „am Neue[n] thurn zu Worms“ verglichen (Fischart 1575, S. ee4r).
  • Nach der Wormser Hochzeit entlehnt Venusin der Didrikskrönikan die burleske Schlafkammerepisode. Diese schwedische Prosafassung hat die Rollenverteilung des Nibelungenlieds bewahrt. Deshalb wird Gunnar von Brynilla an die Wand gehängt. Dieses Ehepaar war jedoch im Laufe der Jahrhunderte in den Hintergrund getreten oder ganz aus der Sage verschwunden. Brünhild tritt weder im Rosengarten zu Worms, dem Hürnen Seyfrid noch der Grimildballade auf, und Gunther spielt in diesen drei Drucktexten nur noch eine Nebenrolle, weil seine Werbefahrt weggefallen ist. Nur in den nordatlantischen Fassungen war die Werbefahrt zu einem dramatischen Flammenritt aufgeschwollen, aber sie lagen damals nur in fernen isländischen und altnorwegischen Handschriften vor. Aus diesem Grund verzichtete Venusin auf Gunnar und Brynilla und übertrug den Ehekrach auf das übriggebliebene Ehepaar, das er in Worms gesehen hatte.
  • Bei Sigfrids Ermordung wird ein Detail aus dem Hürnen Seyfrid übernommen. In diesem Lied wird der Held ob eynem prunnen kalt (HS 177) getötet. Im dänischen Märchen finden wir die doppelte Bezeichnung des Orts als kolde kilde (‚kalte Quelle‘) und koldebrynnd (‚kalter Brunnen‘). Die erste Bezeichnung ist in Anlehnung an das deutsche Gedicht entstanden, die zweite verweist lexikalisch auf den Ort, wo Sigfrid seine Hornhärte erworben hat, und zwar Melusinas Brunnen (HC 217: brøndt).
  • Neben den volkssprachlichen Quellen sind zahlreiche gelehrte Reminiszenzen erkennbar. Sie gehen auf schwer identifizierbare lateinische und griechische Lektüren zurück. Dietrich von Bern wird Theodericus Veronensis genannt. Diese Bezeichnung taucht schon um 1190 bei Gottfried von Viterbo auf (Pantheon Particula 22,18). Diese Stelle lag seit 1559 im Druck vor (Herold 1559, Sp. 477). Genau dieselbe Schreibung wie in der Hvenischen Chronik finden wir auch in Umbra Saxonis (vgl. Andersen 2012, S. 256) und in Venusins eigener Bearbeitung (vgl. Liebe 1695, S. 99f). Eine gelehrte Reminiszenz ist auch der Vergleich des Wormser Ritterturniers mit den Olympischen Spielen in Griechenland (HC 33). Endlich haben wir das Motiv, dass ein Sohn von seiner Mutter zu einem Felsen geführt wird, um durch einen versteckten Gegenstand über die Identität seines Vaters aufklärt zu werden. Es stammt aus der Theseus-Sage (Döring 1870, S. 276).
  • Nicht alle Einzelheiten lassen sich auf quellenmäßiger Grundlage erklären. Hogens Ehefrau Gluna hat nichts mit Kostbera, der Ehefrau Högnis in der Lieder-Edda (Drn, Atm) zu tun. Ihr Name wird durch eine gesuchte Etymologie mit der kleinen Ortschaft Glumslöv an der schonischen Küste gegenüber Ven in Verbindung gebracht, denn dieser Name wird als ‚Glunas Lauf‘ ausgelegt. Die Frau hätte also eigentlich Gluma heißen sollen. Als Gestalt ist sie in textgenealogischer Hinsicht eine Neuigkeit. Ihr Mann ist Junggeselle in allen von Venusin herangezogenen Texten.
  • Zu den neuen Gestalten gehört auch der Greis Bjørn, der früher in Hogens Dienst gestanden hat und jetzt Chremilds Zorn befürchtet (HC 16f). Sein Name erinnert nur ganz schwach an den jungen Krieger Obbe Jern (‚Obbe Eisen‘), der Folquard in einer der drei Balladen sein eigenes Schwert gibt (Vedel 1591, Bl. E8r–v = 31619, Bl. F4v = GBAb 38–40). Auch der breit ausgemalte Kindestausch ist ein Motiv, das der Nibelungensage damals fremd war, denn erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts taucht es im Sigurdlied wieder auf und stammt hier direkt von der Hvenischen Chronik. Der Umstand, dass Chremild ihren Sohn Sigfrid nennt wie im Nibelungenlied (NLB 715), ist reiner Zufall, denn das mittelhochdeutsche Epos war Venusin unbekannt. Es kann zur Not sein, dass die Wormser Lokalsage noch 1580 von der im Nibelungenlied nur ganz flüchtig angesprochenen Nachkommenschaft der beiden gemalten Figuren wusste, aber eine solche Reminiszenz wird von keiner konkreten Quelle belegt.
  • Der Schlussteil des Märchens hat fast keine Entsprechung in den herangezogenen Quellen. Nur die Grimildballade erzählt abschließend, dass Rancke in die Lombardei zieht und dass die Insel nach seiner Mutter benannt wurde. In der Hvenischen Chronik taucht nach Huenilds Tod ein aggressiver Krieger namens Charlhøvde auf und wird in einem Angriff auf Ven getötet. Sein Name stammt aus Saxos Fabelwerk (Gesta Danorum X I,4–6). Hier unternimmt der dänische Krieger Karlhofthus einen missglückten Angriff auf Norwegen (vgl. Grundtvig 1862, S. 769). Der Name Charlhøvde weist auch eine auffällige Ähnlichkeit mit Chremilds Schloss Carheideburg auf, aber der unglückliche Krieger des Märchens wird als Hogens und Glunas Sohn vorgestellt und hat bei oberflächlicher Analyse keine Verbindung mit der Hochburg seiner Tante. Die ausstehenden textgenealogischen Fragen finden nur eine befriedigende Antwort, wenn das Märchen als verschlüsselte Gegenwartssatire gelesen wird.

Die Gestalten und ihre zeitgenössischen Vorbilder

Verschlüsselte Gestalten

  • Sigfrid Horn, Chremilds Ehemann = König von Worms: Friedrich II. (1534–1588), König von Dänemark, vielleicht Venusins Vater
  • Königin von Worms, Sigfrid Horns Mutter: Dorothea von Sachsen-Lauenburg (1511–1571), Königin von Dänemark, Mutter Friedrichs II.
  • Melusina, Sighorn Horns Wirtin: Anne Hardenberg (um 1535–1589), dänische Aristokratin, Mätresse Friedrichs II., vielleicht Venusins Mutter
  • Hagen, Hogen, Nøglings Sohn, Glunas Ehemann: Tycho Brahe (1546–1601), Ehemann von Christine Brahe, vielleicht Liebhaber der Königin Sophie, vielleicht Mörder Friedrichs II.
  • Folgmar, Folckmar, Nøglings Sohn: Anders Sørensen Vedel (1542–1616), Tychos Freund und Begleiter
  • Chremild, Nøglings Tochter: Sophie von Mecklenburg (1571–1631), Ehefrau Friedrichs II., Königin von Dänemark, vielleicht Tychos Geliebte
  • Bjørn, Hogens ehemaliger Diener: Nicolaus Reimarus Ursus (1551–1600), ehemaliger Diener von Tychos Freund Erik Lange, Tychos Vorgänger als kaiserlicher Hofmathematiker
  • Theodoricus Veronensis, gotischer Anführer: Johann III. (1537–1592), König von Schweden ab 1568
  • Gluna, Hogens Ehefrau = Huenild: Christine Brahe (um 1555–1604), Tychos Lebensgefährtin ab 1572; die Gestalt trägt auch Züge von Inger Oxe (um 1525–1591), Tychos Stiefmutter, und von Venusin
  • Ranche, Hogens Sohn = Charlhøvde: Christian IV. (1577–1648), König von Dänemark ab 1596, vielleicht Tychos Sohn; die Gestalt trägt auch Züge von Tycho selbst und Karl IX. (1550–1609)

Verschlüsselte Chronologie

  • Chremilds Kindheit: vor 1572 (HC 11–210)
  • Chremilds erste Ehe: 1572 (HC 211–615)
  • Sigfrids Tod: 1572 (HC 616–102), eventuell als Vorblende nach 1588
  • Chremilds zweite Ehe: 1576 (HC 103–2010), eventuell als Rückblende
  • Hogens Tod: 1576 (HC 2011–2015), eventuell als Vorblende nach 1601
  • Ranches Geburt: 1577 (HC 2016–2123), eventuell als Rückblende
  • Chremilds Tod: 1592 (HC 2123–2619)
  • Ranches Kriegsvorbereitungen: 1596 (HC 2623–275)
  • Ranches Feldzug: 1603 (HC 275–285)

Verschlüsselte Geographie

  • Carheideburg: Frederiksborg
  • Hammersbierg: Lilienberg mit ‚Speisekammer‘
  • Italien: Schweden
  • Noreburg: Kronborg
  • Norge: Krogen
  • Synderburg: Uraniborg
  • Tyslandt: Seeland
  • Wormitz: Kopenhagen

Nøgling (HC 11–281, 6 Belege)

  • Der Stammvater des Riesengeschlechts trägt immer denselben Namen, der sich in letzter Instanz von Nibelung ableitet. Unmittelbar stammt die Gestalt aus der Grimildballade, wo sie den doppelten Namen Nidung und Nøgling trägt. Venusin verzichtet auf die erste Form, um das Schlüsselmotiv zu verstärken. Der Name verweist lexikalisch auf nøgle (‚Schlüssel‘). Im Märchen hat Nøgling drei Kinder, lässt vier Schlösser bauen, hat Bjørn in seinem Dienst und gibt Hogen testamentarische Anweisungen. Er verkörpert keinen Zeitgenossen und könnte zur Not als Schutzpatron für Dänemark gedeutet werden. Die drei Geschwister der Erzählung sind also nicht biologisch miteinander verwandt.

Sigfrid Horn (HC 212–1817, 11 Belege)

  • Sigfrid wird nur einmal Sigfred (HC 521) genannt und trägt dreimal den Beinamen Horn (HC 212, 411, 1817). Er wird in der Einleitung der Grimildballade als Grimilds erster Mann beschrieben und ist darüber hinaus aus Elementen aus der Didrikskrönikan, dem Rosengarten zu Worms und dem Hürnen Seyfrid zusammengesetzt. Im Märchen hat er nach einem Bad in Melusinas Brunnen eine Hornhärte in allen Gliedern erworben, kämpft in Worms, heiratet Chremild, betrügt sie mit Gluna und wird von Hogen an einer kalten Quelle ermordet. Er kann als Allegorie der Lüsternheit gedeutet werden (vgl. Andersen 2007, S. 256–258). Sein zeitgenössisches Vorbild ist Friedrich II. Der König hatte zwar andere Laster als die Lüsternheit, hielt aber zur Empörung des Hofs eine Mätresse. Der Kampf in Worms kann den Dreikronenkrieg (1563–1570) widerspiegeln, wenn Worms als Chiffre für Kopenhagen steht. Dort heiratete Friedrich II. Sophie von Mecklenburg und übernahm selbst als König die Kosten für die Feier. Der König in Worms ist also mit Sigfrid Horn identisch. Friedrich II. starb 1588 mit 54 Jahren, ein relativ junges Alter. Es ist möglich, dass er einer langsamen Vergiftung erlag. Wenn Tycho eine Liebesbeziehung zur Königin unterhielt, hatte er ein gutes Mordmotiv. Mit seinem Märchen gibt Venusin auf jeden Fall zu verstehen, dass Friedrich II. von Tycho ermordet wurde. In der Mordszene wirft Hogen seinem Schwager Sigfrid Blutschande vor (HC 75: blodskam). Diese Bemerkung ist als Anspielung auf die inzestuöse Ehe Friedrichs II. mit seiner Halbkusine zu verstehen.

Die Königin von Worms (HC 315–319, 2 Belege)

  • Wenn der König von Worms mit Sigfrid Horn identisch ist, muss die anonyme Königin die Mutter des Riesen verkörpern, also die äußerst strenge Dorothea von Sachsen-Lauenburg. Sie hatte sich noch vor Beginn des Dreikronenkriegs einer Heirat ihres Sohnes mit seiner Mätresse widersetzt und freute sich, als seine Verlobung mit der blutjungen Sophie von Mecklenburg während der Friedensverhandlungen in Stettin vereinbart wurde. Sie hätte sich sicher persönlich um die Aufsicht ihrer Schwiegertochter und ihres Sohns gekümmert, aber starb einige Tage vor der offiziellen Verlobung (vgl. Andersen 2009, S. 146). Es ist vorstellbar, dass sie sich vorher in der Öffentlichkeit in Begleitung ihrer künftigen Schwiegertochter sehen ließ.

Melusina (HC 218, 1 Beleg)

  • Melusina wird als Waldfrau beschrieben und besitzt einen Zauberbrunnen, der Sigfrids Glieder erhärtet hat. Von einer Wirkung auf seine Haut ist nirgends die Rede. Der Roman von der schlangenähnlichen Frau Melusine entstand am Ende des 14. Jahrhunderts in Frankreich und kam 1456 durch die Übertragung des Berners Thüring von Ringoltingen nach Deutschland. Im Buch der Liebe wird der Roman von einem Holzschnitt eingeleitet, der die weibliche Hauptfigur im Widerspruch zum Text als verführerische Halbschlange in einem Brunnen zeigt (Feyerabend 21587, Bl. 262v). Diese Illustration scheint den Anstoß zum Zauberbrunnen des Märchens gegeben zu haben. Im deutschen Druck wird die Hauptfigur übrigens Melusina genannt wie in der dänischen Bearbeitung. In der französischen Urfassung hieß sie Melusine, so auch in der ursprünglichen deutschen Übertragung. In ihrem Roman symbolisiert sie allgemein die sinnliche Versuchung und steht auch in der Hvenischen Chronik für Erotik. Das Glied, das sich am meisten in ihrem Brunnen erhärtet, ist dasjenige zwischen Sigfrids Beinen. Melusina verkörpert allem Anschein nach die Mätresse des Königs Anne Hardenberg. Diese dänische Aristokratin stammte aus Südfünen. Hier hatten ihre Eltern ein Landgut, zu dem der Ort Mændenes Skovløkke gehörte, wörtlich ‚der Männer Waldglück‘. In diesem Wald scheint die Stammburg des Geschlechts gelegen zu haben. Dort befinden sich noch die Reste eines kreisförmigen Walls, in dessen Mitte eine Quelle entspringt. An diesem Ort kann Friedrich II. seine Mätresse getroffen haben. Venusin scheint sie mit Hinweis auf diese Herkunft als verführerische Waldfrau dargestellt zu haben (vgl. Andersen 2009, S. 244).

Anne Hardenberg rechts (unbekannter Maler 1577, Frederiksborgmuseet)

Hagen > Hogen (HC 12–2721, 41 Belege)

  • Hogens Name wird mit einfachem oder doppeltem Schlusskonsonanten und bis zu Glunas Ehebruch meist mit a geschrieben, danach durchgängig mit o. Die Namensform Hagen stimmt mit dem Rosengarten zu Worms, dem Hürnen Seyfrid und Didrikskrönikan überein. Die Form Hogen stammt aus der Grimildballade und war damals ein verbreiteter dänischer Männername. Hogen ist Nøglings Sohn und rückt nach dem Tod seines Vaters zum Familienvorstand auf. Er betreut den Schlüssel und das Erbe, besorgt seiner Schwester einen Ehemann, wird von seinem Schwager betrogen, tötet ihn, nimmt mit seiner Frau Gluna Zuflucht auf einem Hügel, kehrt zur zweiten Hochzeit seiner Schwester zurück, wird auf Noreburg überfallen, zeugt einen Sohn auf Synderburg mit Huenild, gibt ihr Anweisungen zur Rache und stirbt. Mit Gluna hat er außerdem den Sohn Charlhøvde.
  • Hogen symbolisiert den Astronomen Tycho Brahe. Diese Interpretation widerspricht nicht Sigfrid Horns Identifikation mit Friedrich II., da Hogens Verwandtschaft mit Chremild und Folgmar einen rein symbolischen Charakter hat. Im Märchen wird angedeutet, dass Tycho dem König eine Ehefrau besorgte. Das ist insofern richtig, als die Vermählung zwischen Friedrich II. und Sophie von Mecklenburg vom dänischen Adel unterstützt und zum Teil auch befördert wurde. Heiratete der König eine norddeutsche Herzogtochter, so konnte er mit ihr seine Lust befriedigen und vielleicht die Töchter der einheimischen Aristokratie in Ruhe lassen.
  • Zur Aufsicht der jungen Königin wurde Tychos Stiefmutter Inger Oxe als erste Hofdame eingestellt. Sie hatte in dieser Eigenschaft zwölf Jahre lang die Verantwortung für die intimsten Angelegenheiten des Königreichs. Nach Venusins Darstellung der jüngeren dänischen Geschichte wurde Tycho von Friedrich II. betrogen und ermordete ihn dafür. Dieser Chronologie zufolge stirbt Sigfrid Horn im Jahr 1588. Danach kündigt Hogen seine Absicht an, die Insel zu verlassen, um sich nach Schonen zurückzuziehen, und überquert „das Meer an der schmalsten Stelle“ (HC 914: der som haffuidt er smallest). Wenn er Ven verlassen hätte, hätte er tatsächlich Schonen erreicht, aber wenn er sich an der schmalsten Stelle des Öresunds einschifft, dann verlässt er Seeland in Helsingør und erreicht nicht unbedingt Schonen, denn Ven liegt unweit dieser seeländischen Hafenstadt und ragt 40 Meter aus dem Meer empor. Dort lässt sich Hogen alias Tycho nieder und hat eine schöne Aussicht auf das Land seiner Väter, das heißt Schonen. Erst nach Hogens Tod wird eindeutig auf die noch höheren Hügel in Glumslöv an der schonischen Küste angespielt. Sie erheben sich mehr als 100 Meter über dem Meeresspiegel. Da Tycho in Prag begraben wurde, kann es verwundern, dass Hogens Gebeine nach Glumslöv geschickt werden. Hier geht Venusin frei mit der Geschichte um und wollte bloß seine Leser an die vielen Grabhügel in und bei Glumslöv erinnern.
  • Unmittelbar stellt die innere Chronologie ein Problem dar, denn Tychos Einzug auf Ven erfolgte 1576. Es ist deshalb vorstellbar, dass Sigfrids Tod nur die politische und persönliche Lähmung des Königs nach dem missglückten Krieg und der demütigenden Eheschließung symbolisiert. Dann wäre die Logik der impliziten Chronologie erhalten. Ansonsten müssen wir nach Sigfrids Horn einen Bruch mit der fortlaufenden Chronologie in Kauf nehmen und die folgende Episode als eine Rückblende betrachten. Wenn wir lesen, dass „Chremild nach vier Jahren einen anderen Mann heiratet“ (HC 103f: giffter Chremild sig igenn medt enn Andenn mandt), bedeutet das, dass sie vier Jahre nach ihrer Hochzeit vom 20. Juli 1572 einen Liebhaber findet. Chremild lädt nur anscheinend ihre Brüder nach Ven ein, denn der Inselname wird ausnahmsweise kleingeschrieben, und zwar zweimal hueen (HC 105, 1020). Wenn es sich in der Erzählung tatsächlich um Ven handelt, wird das Wort konsequent großgeschrieben. Die Schreibung huenn ist auch die bestimmte Form des Nomens hu mit suffigiertem Artikel. Dieses Wort bedeutet ‚Gesinnung, Gedanke, Gedächtnis‘ und im übertragenen Sinne ‚Lust, Liebe, Geschlechtsverkehr‘. Wenn Chremild auf huenn Hochzeit feiert und wenn Hogen trotz der Proteste seiner Frau Gluna auf huenn einlässt, dann einfach weil er ein verlockendes Stelldichein akzeptiert und mit einer verheirateten Frau fremdgeht. Der anonyme Mann, den Chremild im Märchen heiratet, ist ihr Bruder Hogen. Deshalb ist Gluna so verzweifelt.
  • Schon der Umstand, dass Hogen die Einladung trotz zahlreicher Warnungen annimmt, macht ihn zu einer Allegorie des Hochmuts. Diese Interpretation wird von der zentralen Szene verstärkt, wo er sich von Chremild schmeicheln lässt und ihr verrät, dass ihm seine Unbesiegbarkeit von den Göttern verliehen ist. Diese Aussage führt zu seinem konkreten Fall. Am Anfang der Erzählung ist er vernünftig und hilfreich und wird noch meist Hagen genannt. Erst in dem Moment, wo er dem Hochmut verfällt und sich entscheidet, Sigfrid zu töten, befestigt sich die Form Hogen endgültig. Sie wurde damals wie das Adjektiv hoven (‚übermütig‘) ausgesprochen, so dass sie als sprechender Name aufzufassen ist.
  • Nach dem Sturz auf den Ochsenhäuten zieht sich Hogen auf sein Schloss zurück. Es wird nur zweimal mit Namen erwähnt, zunächst als Sønderborg (‚Südburg‘) (HC 1618). Diese Form finden wir auch zweimal in der Einleitung der Grimildballade. Sie stammt höchstwahrscheinlich von Tycho selbst, denn schon in Aufzeichnungen von den Jahren 1578–1579 ist von vier geographischen Stützpunkten der Insel die Rede. Der Astronom nennt sie Hammer, Carhöida, Synderborg und Nörreborg (Dreyer 1923, S. 294–300, vgl. Andersen 2007, S. 190), offenbar in Anlehnung an die Namen vier bedeutender Burganlagen, und zwar Hammershus auf Bornholm, Kalø nordöstlich von Århus und Sonderburg/Sønderborg und Nordborg, beide auf Alsen/Als. Alle vier Burgen lagen auf dänischen Inseln. Tycho hatte gleichsam durch diese Namensgebung das ganze Königreich auf seiner kleinen Insel vereint (Andersen 2007, S. 190–196). Im Hundertballadenbuch behauptete Vedel, die Grundfesten, Gräben und Wälle der vier Schlösser seien immer noch ersichtlich, aber diese fragwürdige Aussage hat sich nie durch archäologische Befunde können bestätigen lassen. Venusin hält an den Namensformen fest, spielt aber bei der zweiten Erwähnung von Hogens Schloss mit der Etymologie, indem er es in Synderburg (HC 1824) umbenennt. Mit dieser Form macht er es zu einem Ort der Sünden und spielt auf Uraniborg an. Das Schloss ist also mit dem Haus identisch, das Hogen sich auf einem hohen Hügel gegenüber dem Land seiner Väter auf der einen Seite und Chremilds Schloss auf der anderen baut.
  • Tycho starb am 24. Oktober 1601 in Prag. Deshalb verwundert es unmittelbar, dass sein Doppelgänger offenbar kurz nach Chremilds zweiter Hochzeit stirbt. Diese Vermählung findet nach der inneren Chronologie im Sommer 1576 statt. Um die fortlaufende Chronologie zu retten, müssen wir wie bei Sigfrids Ermordung Hogens Tod als einen symbolischen Abschied von der Welt sehen. Nach seinem Einzug auf Ven lebte der Astronom tatsächlich als Einsiedler zusammen mit seinem kleinen Hof und veröffentlichte nur noch wenige wissenschaftliche Schriften. Venusin könnte sich jedoch wieder einen Bruch der dargestellten zeitgenössischen Chronologie erlaubt haben. Der Hinweis auf Hogens Tod, dessen Umstände im Dunkeln bleiben, ist womöglich als Vorblende auf ein Ereignis zu betrachten, das 1603 noch zur allerjüngsten Vergangenheit gehörte. Der kurze Abschnitt von Hogens Tod wird von Zeitangaben eingeklammert. Wenn Venusin erklärt, Hogen sei „einige kurze Zeit danach“ (HC 2011: Nogen Kort thiidt her effter) gestorben, sagt er nicht, auf welchen chronologischen Stützpunkt er sich bezieht: den Beischlaf mit Huenild (= 1576), die Rache über Chremild (= 1594) oder die Jahrhundertwende (= 1600). Er deutet vielleicht den letzten Stützpunkt an. Nach der Vorblende kehrt er durch die Anspielung auf Huenilds Schwangerschaft zur unmittelbaren Folge des Beischlafs zurück.

Folgmar > Folckmar (HC 12–224, 16 Belege)

  • Folgmar behält denselben Namen bis zur verhängnisvollen Einladung und wird nur einmal Folgmer (HC 311) genannt. Nach der Ankunft zur Hochzeit wechselt er und heißt weiterhin konsequent Folckmar. Er ist Nøglings Sohn, begleitet seine beiden Geschwister nach Worms, geht nach Sigfrids Tod im Kriegsdienst nach Schweden, wird auf Carheideburg von Chremilds Kriegern überfallen und ertrinkt im Blut der Toten. Sein literarisches Vorbild ist der Spielmann, der in der Grimildballade Folquard, im Rosengarten zu Worms Volker und in der Didrikskrönikan Folkordh oder Folkwardh genannt wird. In den beiden letzten Texten ist er nur Hagens Freund, in der Ballade sein Bruder. Im Hürnen Seyfrid tritt die Gestalt nicht auf. In der Hvenischen Chronik wird er nie als Spielmann beschrieben.
  • Folgmar verkörpert den Historiker Anders Sørensen Vedel, Tychos bester Freund. Sie verbrachten in ihrer Jugend drei Jahre zusammen in Leipzig (1562–1565), sahen sich wohl gelegentlich, solange Vedel in Kopenhagen als Hofprediger diente (1568–1581), nur noch selten als der Historiker die Tochter des Bischofs von Ribe heiratete und sich in dieser Stadt niederließ (1581–1616). Im Juni 1586 verbrachte Vedel zwei Wochen auf Ven und traf bei dieser Gelegenheit die Königin. 1591 widmete er ihr das Hundertballadenbuch. Er unterhielt einen Briefwechsel mit Tycho und empfing nach dessen Abreise drei vertrauliche Briefe aus Wandsburg bei Hamburg (10.04.1598), Wittenberg (31.12.1598) und Benátky in Böhmen (18.09.1599).
  • Folgmars Kriegszug nach Schweden symbolisiert die Teilnahme des Historikers am geistigen Kampf zwischen den beiden nordischen Nachbarländern. Dabei ging es im älteren Teil der skandinavischen Geschichte um die genealogische Anknüpfung an Noahs Enkel, im jüngeren Teil um die Herkunft der Goten und die Wappen der Könige. Als Begründer der nordischen Historiographie war Saxo der ständige Streitapfel zwischen Dänemark und Schweden, und Vedel sah sich selbst als der geistige Erbträger des mittelalterlichen Historikers. Er beschäftigte sich eingehend mit der Geschichte, übersetzte 1575 die Gesta Danorum in seine Muttersprache und kündigte eine Fortsetzung an, ohne jemals seinen Plan zu verwirklichen. Der zentrale zweite Teil des Hundertballadenbuchs kann jedoch als eine volkssprachliche Saxo-Forsetzung gedeutet werden. Die Angabe, dass Folgmar im Blut der Toten ertrank und erstickte, ist ein satirischer Hinweis darauf, dass Vedel die versprochene Fortsetzung der Gesta Danorum 1603 noch nicht geliefert hatte. Über die Langsamkeit des Historikers macht sich Venusin, wie bemerkt, auch in der Übersetzung von Umbra Saxonis lustig.
  • Die ursprüngliche Namensform der Märchenfigur ist eine Anspielung auf Vedels Funktion als Begleiter von Tycho. Er folgte ihm nach Leipzig als Hofmeister und reiste schleunigst nach Ven, als der allem Anschein nach geplante Besuch der Königin nahte. Die Schlusssilbe –mar, die im Vergleich zu den anderen Vorlagen dem Märchen eigen ist, ist als ‚Mahr‘ (‚Geist‘) zu verstehen. Folgmar ist ein untrennbarer Plagegeist, der wie ein treuer Hund seinem Herrn folgt. Nach der Ankunft zu Chremilds Fest wird er zu Folckmar. Er wird physisch von seinem geistigen Bruder getrennt und folgt ihm bis zu seinem eigenen Ende nicht mehr.
  • Nachdem Tycho sich auf Ven niedergelassen hatte, dauerte es nicht lange, bis Vedel den Öresund verließ, um nach Jütland überzusiedeln. In Ribe bezog er ein Haus, das er den ‚Lilienberg‘ nannte und nach dem Vorbild von Uraniborg ausschmückte. Wie Tycho begründete er seine eigene Druckerei und gab seine Residenz als Druckort an. So wurde das Hundertballadenbuch laut Titelblatt „in Ribe auf dem Lilienberg“ (vdi Ribe paa Lilie-bierget) gedruckt und erfuhr augenblicklich einen unermesslichen Erfolg. Bis 1671 erlebte die Gedichtsammlung mindestens elf Neuauflagen und wurde 1695 von Peder Pedersen Syv um weitere 100 Balladen vermehrt. In Dänemark wurde Vedel als Erfolgsverfasser erst von Hans Christian Andersen übertroffen. Schon 1603 war das Hundertballadenbuch zu einem Werk des gesamten Volks geworden. In Venusins Augen war es auch eine Plage. Er hielt den einfachen Knittelreim für barbarisch und bemühte sich in seiner eigenen Dichtung um die kunstvollen Reimkonstruktionen, die erst im Barock Mode wurden. Wenn Vedels Doppelgänger in der Hvenischen Chronik nie als Spielmann auftritt, liegt es wohl daran, dass Vedel weder Sänger noch Musiker war. Seine Balladen waren ursprünglich stille Gedichte und wurden erst nach ihrer Veröffentlichung vertont, die Grimildballade allerdings nie, zumindest nicht im Druck.
  • Folgmars Tod stellt einen weiteren Bruch mit der fortlaufenden Chronologie dar. Im Gegensatz zu Friedrich II. und Tycho war Vedel zur Zeit der Hvenischen Chronik noch am Leben und starb erst 1616 im Alter von 73 Jahren. In seinem Fall kommt eine Vorblende nicht in Frage. Nach der impliziten Chronologie stirbt Folgmar 1576 und wird neben seinem Vater Nøgling begraben. In diesem Jahr hatte Vedel gerade sein wichtigstes historisches Werk veröffentlicht, und zwar seine Saxo-Übersetzung. 1579 besorgte er noch die Erstausgabe der Kirchengeschichte Adams von Bremen, aber danach veröffentlichte er kein weiteres historisches Werk, nur noch Leichenpredigten, Psalmen und das Hundertballadenbuch, mit dem er frühzeitig seine literarische Karriere abschloss. 1603 sah die Gedichtsammlung wie ein Abschiedsgruß oder gar wie eine persönliche Grabschrift aus.

Chremild (HC 12–2525, 41 Belege)

  • Der Name der Schwester wird fast immer Chremild buchstabiert. Wir finden nur drei Varianten: Chremeld (HC 611), Chremiild (HC 414, 175), Chremilt (HC 124). Es gibt kein Schwanken in der Schreibung der ersten Silbe. Literarisches Vorbild für Chremild ist die Gestalt, die in der Gesta Danorum Grimilda, im Hundertballadenbuch Grimild, im Rosengarten zu Worms Kriemhild, in der Didrikskrönikan Krimilla o.ä. und im Hürnen Seyfrid Krimhilt heißt. Auf der Wormser Wandmalerei wurde sie nach einem Augenzeugen fraw Crimhiltin genannt (Boos 1893, S. 379). Venusin grenzt sich also von der Schreibung seiner eigenen Landsleute ab und wählt einen harten Anlaut, der mit den ausländischen Quellen übereinstimmt.
  • Chremild ist Nøglings Tochter und offenbar erheblich jünger als ihre beiden Brüder. Sie heiratet Sigfrid Horn in Worms, verweigert ihrem Mann den Beischlaf, wird von Hogen gebunden und unterwirft sich dann. Nach Sigfrids Tod klagt sie Hogen des Mords an und nimmt das Land in ihren Besitz. Sie heiratet einen zweiten Mann, lädt ihre Brüder zur Hochzeit ein und lässt sie überfallen. Hogen stirbt erst nach einem Beischlaf mit Huenild. Chremild wird schwanger, gebiert zeitgleich mit ihrer Dienerin einen Sohn, den sie Sigfrid nennt, tötet ihn unwissend und zieht an seiner Stelle Ranche, den Sohn ihrer Dienerin, groß. Sie wird von diesem Neffen zum Schatz gelockt und verhungert im Goldberg.
  • Im Märchen wird Chremild als Allegorie der Gierigkeit dargestellt. Sie denkt immer an Gold und lässt sich nur auf sexuelle Beziehungen mit Männern ein, um sich des Zauberschlüssels zu bemächtigen. Sie unterwirft sich erst ihrem Ehemann, nachdem er sie mit der Peitsche von seiner physischen Stärke überzeugt hat. Sie lädt später Hogen ein, um ihn durch List zur Auslieferung des Schlüssels zu bringen. Sie wird in Worms als schön beschrieben, aber es handelt sich nicht unbedingt um natürliche Schönheit, sondern eher um Schminke. Ihr Name verweist auf Krem, also Gesichtskrem. Dieses griechische Fremdwort ist auf Dänisch als chreem belegt.
  • Chremild verkörpert Königin Sophie von Mecklenburg, die 1571 mit 14 ihren 23 Jahre älteren dänischen Halbvetter Friedrich II. heiratete. Wegen des Altersunterschieds ist sie ‚die Kinderkönigin‘ (barnedronningen) genannt worden. Deshalb glauben die Fremden in Worms, dass sie die Tochter des Königs ist. Sie benimmt sich dort wie eine Fürstin, nicht nur weil sie eine gute Erziehung bekommen hat, sondern weil sie als Herzogstochter tatsächlich eine Fürstin ist. In Dänemark verweilte sie meist auf den beiden nordseeländischen Königschlössern Frederiksborg in Hillerød und Kronborg in Helsingør. Vielleicht sind diese Schlösser gemeint, wenn Folgmar und Hogen getrennt auf Carheideburg und Noreburg überfallen werden. Carheideburg wird jedoch ausdrücklich als Chremilds eigenes Schloss bezeichnet (HC 723). Deshalb ist auch an das Schloss in Nykøbing Falster zu denken, das sie bei der Eheschließung als Leibgedinge erhielt. Sie bezog es jedoch erst 1594, sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Von dort aus führte sie eine blühende Wirtschaft und endete ihr Leben als steinreiche Frau. Sie lieh ihrem eigenen Sohn, König Christian IV., Geld für seine zahlreichen Militärprojekte, und auch Tycho erhielt ein Darlehen von 1000 Talern von ihr. Zwischen 1589 und 1592 schickte sie dem Astronomen fünf Briefe, um das Geld mit Zinsen zurückzuerlangen (vgl. Andersen 2009, S. 410). Vielleicht hatte sie ihm das Darlehen im Juni 1586 gewährt, als sie ihn ohne den König auf Ven besuchte und dabei zwei Nächte auf Uraniborg verbrachte. Dieser Besuch wird im Hundertballadenbuch von Vedel beschrieben (1591, Bl. A2r = 31619, Bl. A2r) und auch von Tycho in seinem meteorologischen Tagebuch bestätigt (Dreyer 1927, S. 45f). Die Übernachtung auf Ven schadete dem Ruf der Königin, die schon vor der Geburt ihres ersten Sohns Christian am 12. April 1577 verdächtigt wurde, eine Beziehung mit Tycho eingeleitet zu haben. Wenn der Astronom der biologische Vater des Kronprinzen war, muss er im Juli oder August 1576 mit der Königin geschlafen haben. Damals war sie genau vier Jahre lang mit Friedrich II. verheiratet gewesen. Auf diese Dauer wird im Märchen angespielt, denn Chremild heiratet einen zweiten Mann vier Jahre nach ihrer ersten Hochzeit (HC 103). Wenn das Jahr 1588 in der inneren Chronologie bei Sigfrids Tod erreicht ist, blendet der Dichter bei der zweiten Hochzeit stillschweigend 16 Jahre zurück. Zu diesem Zeitpunkt ist Sigfrid Horn alias Friedrich II. also noch nicht tot.
  • Chremilds eigener Tod symbolisiert das Schicksal der Königin zur Zeit des Märchens. 1592 mischte sie sich in die Politik ein, um ihre jüngeren Söhne zu begünstigen, und versuchte ihren Willen gegen den unmündigen Kronprinzen Christian und die Vormundregierung durchzusetzen. Die Auseinandersetzung endete damit, dass sie sich 1594 auf ihr entlegenes Leibgedinge auf Falster zurückziehen musste. Dort wurde sie gleichsam vom künftigen König mit ihrem Gold eingesperrt. Auf den Ausbruch dieses Familienkonflikts wird dadurch angespielt, dass Ranche im Alter von 15 Jahren seine Tante in den Schatzberg lockt. 1592 war der Kronprinz genauso alt wie Ranche in dieser Episode.
  • Im Märchen ist die Verwandtschaft der drei Geschwister Ausdruck der durch das Hunderballadenbuch berühmt gewordenen Begegnung zwischen Tycho, Vedel und Königin Sophie auf Ven. Im Juni 1586 gingen die drei Betroffenen eine Form von Bündnis ein, das als Brüderschaft betrachtet werden könnte. Vielleicht handelte es sich sogar konkret um eine Verschwörung gegen den trinksüchtigen und jähzornigen König. Er starb weniger als zwei Jahre später zur großen Erleichterung der drei Freunde. Tycho erhob sich zum halboffiziellen Staatsoberhaupt und empfing am 20. März 1590 den schottischen König Jakob VI. auf Uraniborg, als hätte Dänemark seine Hauptstadt verloren. Vedel profitierte von der Lockerung der Zensur, um 1591 seine revolutionäre Gedichtsammlung zu veröffentlichen, Sophie unternahm 1592 einen Staatsstreich gegen den Kronprinzen.

Bjørn (HC 1621–1718, 3 Belege)

  • Zu den Nebenfiguren des Märchens gehört der Greis Bjørn. Er hat früher in Nøglings und Hogens Dienst gestanden und weiß jetzt genau, was auf Chremilds Schloss passiert. Offenbar ist er in ihren Dienst getreten. Als literarisches Vorbild für ihn kommt nur der Krieger Obbe Jern in Frage, der in der Grimildballade Folquard ein Schwert gibt. Der Männername Bjørn bedeutet ‚Bär‘ und erinnert deshalb an den Astronomen Nicolaus Reimers aus Dithmarschen. Er nannte sich selbst Ursus (‚Bär‘). 1584 besuchte er Tycho auf Uraniborg und scheint bei dieser Gelegenheit insgeheim einige Papiere kopiert zu haben. 1588 präsentierte er ein neues Weltsystem, das später nach dem Schonen benannt wurde. Im Tychonischen Weltsystem dreht sich die Erde immer noch um die Sonne wie bei Ptolemäus, die übrigen Planeten aber nicht mehr um die Erde, sondern um die Sonne wie bei Copernicus. Dieses Modell ist also halb geozentrisch, halb heliozentrisch. Es steht vor allem nicht im Widerspruch zur Bibel und war deshalb harmlos. Seine Anhänger riskierten nicht den Scheiterhaufen. In einem privaten Brief von 1589 beschuldigte Tycho den norddeutschen Astronomen des Plagiats und bezeichnete ihn als Diener seines Freunds Erik Lange. Ursus entdeckte erst die Anklage, als Tycho 1596 seinen astronomischen Briefwechsel auf Uraniborg herausgab (Dreyer 1919, S. 179). Der Norddeutsche reagierte mit einer Schmähschrift, in welcher er unter anderem über die berühmte künstliche Nase des Schonen ironisierte. Er unterstich, er sei jetzt kein Diener mehr, sondern kaiserlicher Hofmathematiker. Mitten in seinem lateinischen Kommentar benutzte er das dänische Wort, das in der Hvenischen Chronik auf Bjørn übertragen worden ist: Sed iam non sum Jerix dreng (‚Aber ich bin nicht länger Eriks Knabe.‘) (Ursus 1597, S. Fr) In seiner Schmähschrift verdrehte Ursus absichtlich die Namen seiner Gegner und gab anscheinend den Standardgenitiv Eriks in jütländischer Mundart wieder. Die Form erinnerte doch gleichzeitig an das Possessivpronomen Jeris, heute jeres (‚euer‘). Venusin dürfte nicht den Lebenslauf des Norddeutschen allzu gut gekannt haben. Deshalb wird Bjørn als ehemaliger Diener von Nøgling und Hogen beschrieben. Bevor Ursus in den Dienst des jütländischen Aristokraten Erik Lange trat, hatte er für Heinrich Rantzau, Statthalter der Herzogtümer Schleswig und Holstein, gearbeitet und also indirekt auch für den dänischen König. Als Tycho 1599 zum kaiserlichen Hofmathematiker ernannt wurde, strengte er einen Prozess gegen seinen Vorgänger an. Ursus floh nach Schlesien und starb am 15. August 1600, vierzehn Monate vor seinem Erzfeind (vgl. Andersen 2009, S. 33f). Wegen dieser aufsehenerregenden Flucht wird Bjørn im Märchen als Angsthase beschrieben.

Theodoricus Veronensis (HC 42, 1 Beleg)

  • Theodoricus Veronensis wird nur ganz beiläufig erwähnt und bietet deshalb Interpretationsschwierigkeiten. Sein literarisches Vorbild ist König von Bern in drei von Venusins Vorlagen. Er heißt Dietrich im Rosengarten zu Worms, Didrik in der Didrikskrönikan und Tidrich oder Tiderich in vier von Vedels Balladen. In der Hvenischen Chronik wird sein Name latinisiert, entweder nach Umbra Saxonis oder einer anderen historiographischen Quelle. Durch die Latinisierung wird die Gestalt mit dem ostgotischen König Theoderich der Große identifiziert. Damit bekommt das Märchen eine chronologische Grundlage. Die Erzählung muss zu Beginn des sechsten. Jahrhunderts spielen, mehrere Jahrzehnte vor der Ankunft der Lombarden in Norditalien. Mit dieser Identifikation prangert Venusin diskret Vedels historische Kenntnisse an. In der Einleitung der Lombardenballade datiert der jütländische Historiker ganz richtig diese Ankunft auf das Jahr 568 (1591, Bl. C1r = 31619, Bl. C4r). Später lässt er Rancke zu den dänischen Lombarden in Bern ziehen (1591, Bl. E4r = 31619, Bl. E7r), obwohl seine Leser im Straßburger Heldenbuch feststellen konnten, dass Kriemhild, Siegfried und Dietrich von Bern Zeitgenossen sind. Mit der Latinisierung berichtigt Venusin die historische Grundlage der Sage. Aus diesem Grund beseitigt er wohl auch absichtlich den König von Worms, der in seinen Vorlagen Gunther, Günther oder Gunnar hieß, und den Hunnenkönig Etzel oder Attilius. Venusin dürfte diese Gestalten mit Gundaharius und Attila identifiziert haben, die in ein früheres Jahrhundert gehören.
  • In der Hvenischen Chronik erfahren wir nur, dass Theodericus mit seinen gotischen Kriegern aus Italien nach Worms gekommen ist. In Skandinavien werden die Goten traditionell mit den Schweden gleichgesetzt. In der heutigen dänischen Nationalhymne zerschmettert König Christian (IV.) den Helm und das Hirn eines „Goten“ in einer Seeschlacht, bei welcher er historisch gesehen mit Schweden konfrontiert war. Nur Petreius und seine Anhänger betrachteten die Goten als Dänen. Der schonische Pfarrer behauptet zum Beispiel, dass Jütland und Gottorf nach ausgewanderten schonischen Goten benannt wurden (Originaltext = Andersen 2012, S. 240; Venusins Bearbeitung = Liebe 1695, S. 65). Dieser Interpretation zufolge wäre Theodericus mit dem damaligen Herrscher der gottorfschen Teile der Herzogtümer, also Herzog Adolf I. von Holstein, gleichzusetzen. Zur Zeit der Hvenischen Chronik war dieser Fürst allerdings längst tot und hatte in der nordischen Geschichte eine allzu geringe Rolle gespielt, um im Märchen mit gotischer Maske aufzutreten. Venusins Gote muss deshalb ein schwedischer König sein. Zur Zeit der Hochzeit Friedrichs II. kommt nur König Johann III. in Frage. Er herrschte von 1568 bis 1592 über Schweden und nahm allerdings nicht an der Hochzeit seines dänischen Amtskollegen am 20. Juli 1572 teil. Italien steht also für Schweden. Deshalb sind die Goten „fast“ (HC 44: saa gott) die Landsleute, das Geschlecht und die Verwandten der anderen nordischen Krieger in Worms.
  • Später zieht Ranche mit seinen Kriegern durch Tysland zu den Goten in Italien (HC 2713) und kommt nie mehr zurück. Man erwartet die Form Tyskland (‚Deutschland‘), und sie wurde auch in der Kopenhagener Abschrift eingesetzt. Die absichtliche Fehlschreibung könnte als Karikatur einer sonderbaren Lesart gemeint gewesen sein, die wir nur in der Grimildballade finden. Hier kündigt Hogen dem Pförtner seiner Schwester an, er sei von trinde Tyde Land gekommen (Vedel 1591, Bl. E3r = 31619, Bl. E7r = GBC 20). Diese Ortsangabe hat in der Forschung zu unterschiedlichen Interpretationen geführt und steht wohl für ‚rundes Hauptland‘, also Seeland oder Schonen (vgl. Andersen 2007, S. 203). Venusins Nachahmung bedeutet also vermutlich auch Seeland oder Schonen. Diese Landschaften bilden den natürlichen Ausgangspunkt für einen dänischen Feldzug gegen Schweden. Schonen wird im Laufe der Erzählung sechsmal erwähnt, Seeland nur im Titel. Deshalb steht Tysland eher für die Insel als für das Festland. Wir finden dieselbe Form nach Sigfrids missglückter Hochzeitsnacht. Der Riese ist sauer und möchte nach Tysland (HC 59) zurück. Auf Seeland befanden sich die wichtigsten Schlösser Friedrichs II., kein einziges in Schonen.

Gluna > Huenild (HC 12–224, 16 Belege)

  • Die interessanteste Gestalt des Märchens ist Huenild. Ihr literarisches Vorbild ist die gleichnamige Figur der Grimildballade, die wiederum auf die schattenhafte Beischläferin Märeth aus der Didrikskrönikan zurückgeht. Bei Venusin tritt sie erst im letzten Teil der Erzählung aus der Kulisse und findet 12-mal oder 13-mal Erwähnung (HC 1924–2715). Zweimal hat der Name einen doppelten Schlussvokal (HC 2422, 2519: Hueniild), einmal wird er kleingeschrieben (211: huenild). Hinzu kommt die anscheinend absichtliche Zusammenziehung zweier Wörter zu einer zusätzlichen kleingeschriebenen Variante: effterdij huennheell hengde thill guldet (HC 2323). Getrennt bezieht sich der Satz unmittelbar auf Chremilds Gedanken: „Da ihr Sinn (huenn) ganz (heell) zum Gold stand.“ Das Subjekt kann auch als Inselname verstanden werden: „Da Ven ganz zum Gold neigte.“ Endlich sieht das Wort als Variante zu Huenild aus. Chremild wird auch einmal Chremeld genannt, und das d ist in beiden Namen stumm.
  • Die gewöhnliche Schlusssilbe bedeutet ‚Feuer‘ (ild). Gerade in dem Moment, wo die Dienerin blitzschnell denken muss, wird ihr Name kleingeschrieben, so dass man ‚Ven-Feuer‘ oder sogar ‚Gedankenfeuer‘ lesen kann. Im kritischen Augenblick findet sie sofort die Lösung und tauscht die Kinder. Auch bei ihrer ersten Probe, die in einer mündlichen Prüfung mit Hogen als Examinator besteht, stellt sie ihre geistigen Fähigkeiten zur Schau und benutzt ihr Gehirn. In der Didrikskrönikan hat Märeth nur die Funktion, einen rächenden Sohn zu gebären. Vedel gestaltet sie zu einer Allegorie der Schönheit aus und macht sie nach Saxos Vorbild zur eponymen Stammmutter der Insel Ven, daher der neue Name. Venusin behält den Namen und versieht die Figur mit Weisheit.
  • Im Märchen ist Huenild Chremilds Dienerin und hat anscheinend die von Vedel ausführlich beschriebene Schönheit eingebüßt. Nach seinem eigenen Orakel muss Hogen mit einer Jungfrau von Riesengeschlecht schlafen, nach Chremilds Orakel eine edle Jungfrau beschlafen. Die Riesen scheinen also die Aristokratie zu symbolisieren. Huenild benimmt sich tatsächlich wie eine Adelige und überzeugt Hogen davon, dass sie nicht vom „gemeinen Volk“ (HC 201: gemeine folck) stammt. Ausdrücklich wird sie allerdings nie als adelig oder Riesin beschrieben. Ihre Herkunft bleibt völlig im Dunkeln. Deshalb fällt auf, dass sie gerade in dem Augenblick auf die Bühne tritt, wo Hogens Ehefrau aus der Erzählung verschwindet.
  • Gluna wird siebenmal erwähnt, bis zum Abschied mit ihrem Mann immer mit lateinischer Endung (HC 12–1022), danach mit den dänischen Endungen –æ oder –e (HC 152–2016). Das e ist für die etymologische Erklärung von Glumslöv als ‚Glunes Lauf‘ notwendig. Nach Huenilds Tod ist noch einmal von Gluna mit dänischer Genitivendung (HC 2721: Glunes) als Mutter von Charlhøvde die Rede. Phonetisch erinnert Gluna an das Partizip gloende (‚glühend‘). Der Name ist also etymologisch als Vorform von Huenild zu verstehen, und alles spricht dafür, dass es sich um dieselbe Frau handelt. Im Laufe der Handlung wird Hogens glühende Ehefrau zu seiner feurigen Geliebten.
  • Die Verwandlung der Figur findet nach der Abreise ihres Ehemanns statt. Offenbar verlässt Gluna das Haus auf dem Hügel kurz nach Hogen und reist in seine Richtung, um die Hochzeit, also den Ehebruch, zu verhindern. Im Text ist zu lesen, dass sie nach Norwegen geht. Das dänische Wort Norge erinnert stark an den Namen des Schlosses Noreburg und ist anagrammatisch aus fünf der acht Buchstaben zusammengesetzt. Gerade dort wird Hogen überfallen. Zur Zeit der Hvenischen Chronik begeisterte sich kein anderer Skandinavier mehr für Anagramme als Venusin. Allein aus dem Namen seines Erzfeindes hat er drei Anagramme gebildet, und zwar Tu cor habe (‚Habe Mut‘) für ‚Tuco Brahe‘, Hoc ut herba (‚Dies wie Gras‘) für ‚Tucho Brahe‘ und In toto corde beatus (‚der im ganzen Herzen Glückliche‘) für ‚Tuco Brae Ottonides‘ (vgl. Andersen 2007, S. 375 = Andersen 2009, S. 166). Vielleicht geht Venusin in diesem Fall einen Schritt weiter und benutzt Norge und Noreburg als Chiffren für Kronborg. Wegen des fehlenden k liegen unvollständige Anagramme vor, aber die phonetische Ähnlichkeit ist auffällig und auf jeden Fall erheblich größer als im Hundertballadenbuch. Vedel nennt das Schloss viermal Nørborg. Venusin verzichtet also auf den Umlaut und fügt ein e hinzu. So rückt er in beiden Fällen die Form in die Nähe von Kroneborg, die älteste Schreibung für Kronborg. Sie stammt aus einem berühmten dänischen Dekret vom 24. Januar 1577. Damals verordnete Friedrich II. seinen Untertanen, die neue Festung „Kroneborg und nicht mit dem alten Namen Krogen“ (Kroneborg och icke med thet gamle naffn Krogen) zu nennen. Als Strafe für den Verstoß gegen dieses Gebot sollte man „einen guten Ochsen“ (en guod oxe) abgeben (Petersen 1869, S 141 = Andersen 2009, S. 141). Bis 1577 wurde die alte Festung, welche zusammen mit den gegenübergelegenen Anlagen in Helsingborg die enge Einfahrt in den Öresund überwachte, Krogen (‚der Haken‘) genannt. So heißt sie noch bei Glunas Flucht nach der inneren Chronologie und bekommt erst den späteren Namen während Huenilds Schwangerschaft. Auf diesen Wechsel spielt Venusin vermutlich an, denn Norge ist bis auf das fehlende k ein Anagramm von Krogen.
  • Wenn Gluna und Huenild Tychos Ehefrau verkörpern, stellt sie in erster Linie die ueadelige Schonin dar, die Christine hieß und zwischen 1573 und 1583 acht Kinder gebar. Zwei von ihnen starben in jungem Alter. Christine folgte dem Astronomen nach Prag und wurde 1604 neben ihm begraben. Mehr wissen wir nicht über sie, weder ihre Herkunft noch ihren Wohnort bis zur Abreise von Dänemark. Vielleicht besuchte sie niemals Ven. Ihre mangelhafte Biographie ließ Venusin großen Spielraum für die dichterische Gestaltung seiner weiblichen Heldin.
  • Der Umstand, dass Huenild in Chremilds Dienst steht und sogar zeitweilig in ihrer Kammer schläft, rückt die Heldin in die Nähe einer anderen Frau, die dem Astronomen sehr nahe stand. Es handelt sich um seine Stiefmutter Inger Oxe. Sie war mit Jørgen Brahe, dem älteren Bruder seines Vaters, verheiratet und konnte keine Kinder bekommen. Ihre Unfruchtbarkeit erklärt die berühmteste Entführung der gesamten nordischen Geschichte. Das Opfer war Tycho. Er schrieb selbst, er sei „in der Kindheit ohne das Wissen seiner Eltern von seinem Onkel entführt“ worden (a patruo […] parentibus ipsis insciis in infantia abreptus) (Brahe 1598, Bl. F1v = Dreyer 1923, S. 106). Sie verlor im Sommer 1565 ihren Mann nach einem merkwürdigen Unfall in einem Kopenhagener Kanal, wo er den vermutlich schwer betrunkenen König Friedrich II. vom Ertrinken rettete und selbst starb, angeblich an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Witwe kann dem geretteten Fürsten diesen Tod nachgetragen haben. Sie wurde trotzdem nach seiner Hochzeit als höchste Hofdame der jungen Königin eingestellt. Sie hatte dieses Amt von 1572 bis 1584 inne und wurde dann von Tychos leiblicher Mutter Beate Bilde ersetzt. Nach der Geburt des Kronprinzen im April 1577 kann Inger Oxe diskret den Neugeborenen gegen einen anderen getauscht haben. Tycho hatte drei Monate früher mit Christine einen Sohn bekommen. Nach einer Gedenktafel in der Kirche von Helsingborg wurde das Kind auf Nicolaus (dän. Niels) getauft und starb nach sechs Tagen (Dreyer 1929, S. 3). Es ist nicht völlig unmöglich, dass dieser Knabe in Wirklichkeit überlebte und mit drei Monaten in die königliche Wiege gelegt wurde. Vom Ende des Dreikronenkriegs 1570 bis zur Krönung Christians IV. 1596 wurde Dänemark vom Adel regiert, und die Geschlechter Oxe und Brahe gehörten zu den einflussreichsten des Landes.
  • Huenild kann als Allegorie der Weisheit gedeutet werden und verkörpert schon durch ihren Namen die Insel Ven. Deshalb ist sie auch als Selbstporträt zu sehen. Sie schläft bald mit Sigfrid, bald mit Hogen, und dient als Berater für Ranche, wie auch Venusin zunächst eine nahe Beziehung zu Friedrich II., dann zu Tycho hatte und nach der Krönung Christians II. langsam zur Grauen Eminenz aufrückte. Auch in Urania Titani schlüpft der Dichter in eine weibliche Haut. Das lyrische Ich ist Urania, die Muse der Astronomie. Sie schreibt einen Abschiedsbrief an ihren ehemaligen Liebhaber Titan, der sie verlassen hat, um woanders Gold zu machen. Urania Titani ist wie die Hvenische Chronik eine verschlüsselte Darstellung der dänischen Gegenwart, so wie Venusin sie sah. Wenn man zwischen den Zeilen liest, ist Urania die Königin Sophie, Titan ihr ehemaliger Liebhaber Tycho. Sie beginnt im Frühling 1600, ihren Brief zu schreiben, und warnt Titan vor verschiedenen Chemikalien, insbesondere dem Quecksilber. Während sie schreibt, stirbt ein gemeinsamer Freund an einem Laborunfall, eine Anspielung auf Anders Krags Tod im Juni 1600. Urania beendet ihren Brief im Frühling 1601 und bedauert zum Schluss, dass Titan die Warnung nicht verstehen wird. Ihre 600 Verse, deren Zahl auf die Jahrhundertwende verweisen, sind auf Venus‘ Insel Ven unterzeichnet. So kann das Gedicht gelesen werden (vgl. Andersen 2009, S. 225–276). Es wurde früher Tycho zugeschrieben und gilt als das gelungenste lateinische Gedicht der skandinavischen Literaturgeschichte.
  • Die Unterzeichnung bestätigt einmal für alle Venusins Verfasserschaft. Bei einer tieferen Lektüre ist Urania der Dichter selbst, der einst seine Liebe zum Astronomen in eleganten Huldigungsgedichten ausdrückte. Jetzt kündigt er die Beziehung und warnt Tycho vor Gift. Allem Anschein nach vollstreckte er einen Mordplan im Oktober desselben Jahres und hinterließ persönlich das Gedicht mit seiner Unterschrift am Tatort. Die Originalhandschrift wurde auf jeden Fall im Nachlass des Astronomen gefunden, daher die traditionelle Zuschreibung.

Ranche > Charlhøvde (HC 2023–269, 12 Belege)

  • Ranche hat wie Gluna eine Namensform mit schwankender Endung. In den ersten Belegen finden wir das einheitliche dänische e, später dominiert die lateinische Deklination. Der Übergang ist fließend, setzt aber in dem entscheidenden Augenblick ein, wo die Figur über ihre wahre Identität aufgeklärt und zur Rache aufgefordert wird. Als literarisches Vorbild hat die Gestalt gedient, die in der Didrikskrönikan Aldrian heißt. Vedel nennt Huenilds Sohn dreimal Rancke, immer mit derselben Schreibung. Die von Venusin gewählte dänische Namensform verändert nichts an der Aussprache. Ranche ist Hogens und Huenilds Sohn, und er wird zeitgleich mit Chremilds Sohn Sigfrid geboren. Er wächst an der Stelle des getöteten Kindes bei Chremild auf und wird deshalb Sigfrid genannt, bis er mit fünfzehn die Wahrheit erfährt. Er tötet in diesem Alter seine falsche Mutter, sieht vier Jahre untätig die Zeit ab, rüstet dann kräftig auf und gibt seinen Kriegern zwei Jahre ihren Sold, zieht im dritten Jahr zu den Goten in Italien und kehrt nie zurück. Bei Vedel erwirbt er Ruhm bei den Lombarden. Bei Venusin fällt er anscheinend auf dem Schlachtfeld, ohne die geringste Heldentat geleistet zu haben.
  • Die Figur verkörpert Christian IV. Venusin betrachtete also den König als den Sohn des Astronomen und der Schonin Christine. Die Auseinandersetzung zwischen dem fünfzehnjährigen Ranche und seiner Tante Chremild spiegelt, wie bemerkt, den Konflikt zwischen dem Kronprinzen und seiner offiziellen Mutter Sophie wider. Die folgenden vier untätigen Jahre entsprechen seiner Wartezeit bis zur Krönung am 30. August 1596. Christian IV. war damals 19 Jahre alt wie Ranche am Anfang der Aufrüstung. Die zwölf starken Schonen, mit denen er sich in der Kriegskunst übt, lassen sich nicht mit historischen Aristokraten identifizieren. Die Kriegsübungen sind wohl einfach als Wiederholung des Wormser Turniers zu verstehen. Im Rosengarten zu Worms kämpfen zwölf Krieger für die Stadt und verlieren alle Zweikämpfe. Im letzten Kampf unterliegt Sigfrid gegen Dietrich von Bern, den Venusin als einen Goten, also im übertragenen Sinne als einen Schweden, beschreibt. Es ist im Märchen unklar, wer von den angereisten nordischen Kriegern das Wormser Turnier gewinnt. Vielleicht endet es unentschieden wie der Dreikronenkrieg, vielleicht unterliegt Sigfrid wie in der bekannten deutschen Vorlage. Aus der Vergangenheit zieht Ranche zumindest keine Lehre für die Gegenwart. Er hat einfach Huenilds Anweisungen befolgt und sich an seiner Tante gerächt. Jetzt will er sich auf eigene Faust an den Goten rächen.
  • Nach seiner Krönung setzte Christian IV. alles darauf ein, die dänische Vorherrschaft im Norden wiederherzustellen. Er träumte wie Friedrich II. von der Kalmarer Union, aus welcher Schweden sich 1523 losgerissen hatte. Zur Zeit der Hvenischen Chronik erlebte Dänemarks großes Nachbarland gerade eine tiefe innere Krise und hatte 1598 seinen rechtmäßigen König Sigismund abgesetzt, ohne vorläufig einen Nachfolger zu krönen. Schweden wurde von Herzog Karl, dem Onkel des abgesetzten Königs, regiert, und seine Krönung fand erst 1604 statt. Im Frühling 1603 wurde an der Grenze zwischen Dänemark und Schweden verhandelt, und Christian IV. wollte eine Kriegserklärung. Der Reichsrat war traditionell dagegen, hatte aber zweimal unter Friedrich II. nachgegeben, 1559 als der König Dithmarschen überfallen wollte, 1563 als er entschlossen hatte, Schweden unter dänische Herrschaft zurückzubringen. Im Herbst 1603 wurden die Verhandlungen fortgesetzt, aber es kam aus unerklärten Gründen nicht zum Krieg. Erst 1611 griff Christian das Nachbarland an. Damals war Venusin verschwunden und konnte den königlichen Wahnsinn nicht mehr bremsen.
  • Vieles spricht dafür, dass der Frieden im Frühling 1603 wegen einer kleinen volkssprachlichen Fabel bewahrt wurde. Die Hvenische Chronik wurde vermutlich in erster Linie für den jungen König und Reichskanzler Arild Huitfeldt, Venusins Gönner, geschrieben. Im Nachlass des Kanzlers befanden sich das lateinische Original von Umbra Saxonis und die beiden handschriftlichen Urfassungen von Mikkelsens Übersetzung, und der Kanzler edierte 1603 das gotische Gedicht über die Lombarden nach dem Original (Huitfeldt 1603 = 21650, S. 15). Er schickte schon 1586 Venusin eine historische Handschrift (Andersen 2007, S. 54; Andersen 2009, S. 204) und scheint also den Austausch fortgesetzt zu haben. Der Dichter muss seinem Mäzen das kleine Märchen gezeigt haben. Im Frühling 1603 nahm Huitfeldt noch nicht an den Grenzverhandlungen teil. Er schloss sich erst im Herbst der dänischen Delegation an und scheint damals seinen Willen durchgesetzt zu haben. Er war ein Hauptvertreter der adeligen Friedenspartei. Ranches trauriges Schicksal und die angedeutete dänische Niederlage im Krieg gegen die Goten können seinen Willen zum Frieden verstärkt haben. 1603 ist das einzige Mal, das der Reichsrat dem Kriegswillen eines Königs widerstand. 1559 und 1563 hatte sich Friedrich II. durchgesetzt, 1611 und 1625 sollte sein Nachfolger Christian IV. dasselbe tun. Im Dreißigjährigen Krieg führte er sein Imperium zum Untergang. 1627 standen deutsche Truppen in Jütland, 1645 schwedische vor Kopenhagen. Damals musste Christian IV. die ersten Territorien aufgeben: die Inseln Gotland und Ösel/Saaremaa in der Ostsee, die norwegischen Landschaften Jämtland und Härjedalen auf dem Festland. 1660 verlor Dänemark zum ersten Mal ein altdänisches Territorium. Tychos Heimat Schonen wurde zusammen mit Halland, Blekinge und Ven an Schweden abgetreten. Hinzu kam noch die norwegische Landschaft Bohuslän.
  • Die nordische Geschichte wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entschieden und hätte vielleicht eine andere Richtung genommen, wenn Christian IV. nicht in Ranches Fußstapfen getreten wäre. 1603 verzichtete er ausnahmsweise auf den geplanten Kriegszug, allem Anschein nach weil er die Hvenische Chronik gelesen oder gehört hatte. Der oberste Sekretär der Kanzlei Sivert Grubbe erklärt in seinem Tagebuch, dass Chrisian IV. Venusin privat besuchte, als dieser Professor war, also nach der Jahrhundertwende (Uldall 449 4to, S. 165: rex eum aliquoties in propriis ædibus invisit, dum adhuc in Academia viveret). Ein Zeitgenosse hebt die Vorliebe des Königs für Venusins Geschichten hervor (Rørdam 1867, S. 214). Deshalb ist vermutet worden, dass der Professor seinen Fürsten mit lustigen Erzählungen unterhielt (Andersen 1907, S. 181). Die Hvenische Chronik muss dazu gehört haben.
  • Christian IV. konnte sich in Ranche erkennen und muss die Warnung verstanden haben. Venusin hat ihm sicher einige Zweideutigkeiten erklären müssen. Eine davon ist die abschließende Bezeichnung des jungen Heerführers als Sigfredt Ranche (HC 283). Nur im Schlusssatz des Märchens bekommt die Figur diesen Doppelnamen. Er ist umso auffälliger, als Chremilds Mann und Sohn bis auf eine Ausnahme (HC 521) immer Sigfrid oder Sigfridt genannt werden. Der Doppelname stimmt vokalisch und teilweise auch konsonantisch mit dem Taufnamen des Astronomen Tyge Brahe überein. Die Vokalreihe ist dieselbe (i/y – e – a – e), und auch drei der Konsonanten erscheinen in derselben Reihenfolge (g – r – h). Die Warnung gegen den Kriegszug umfasste also eine Mahnung ans tragische Schicksal des Astronomen. Er hatte wie Ranche sein Vaterland verlassen und war nie zurückgekehrt. Venusin und Christian IV. kannten höchstwahrscheinlich beide die genaue Ursache, denn der König hatte allem Anschein nach auf Empfehlung seines neuen Physikprofessors einen Mörder nach Prag geschickt. Zu dieser Mordhypothese, siehe die Präsentation des Verfassers unten.
  • Da Christian IV. nicht sein Leben enden wollte wie der Astronom, beschloss er nach der Lektüre des Märchens, nicht in die Fußstapfen von Sigfredt Ranche zu treten, und blieb vorläufig in seinem Vaterland. Ein zusätzliches Motiv für den Verzicht auf eine Kriegserklärung war eine bevorstehende Geburt. Nach fünfjähriger Ehe mit der deutschen Herzogtochter Anna Katharina von Brandenburg hatte Christian IV. noch keinen Erben, denn sein erstgeborener Sohn war tot. Als Venusin sein Märchen vollendete, war die Königin wieder hochschwanger und gebar am 10. April 1603 ihrem Mann einen Kronprinzen. Er wurde nach seinem eigenen Vater Christian genannt, obwohl die Tradition vorsah, dass man ihm den Namen seines Großvaters geben sollte. Vielleicht fühlte sich der König wenig mit Friedrich II. verbunden. Im Märchen stirbt Nøglings Geschlecht aus, weil Ranche in den Krieg zieht, ohne vorher für Nachkommenschaft gesorgt zu haben. In der Wirklichkeit nahm die Geschichte eine andere Wende, weil Christian IV. im Frühling auf die vernünftigen Ratschläge des Physikprofessors hörte.
  • Die tiefere Botschaft des Märchens hat Venusin dem König verschwiegen. Zum Schluss wird die Insel Ven alias Dänemark von Hogens Sohn Charlhøvde angegriffen. Vorher ist nicht von dieser Gestalt die Rede gewesen. Da er als Glunas Sohn vorgestellt wird, muss es sich um Ranche handeln. Auf der Ebene der Erzählung findet der Angriff nach der Abreise von Huenilds Sohn statt. Der Tod von Glunas Sohn erklärt, warum Sigfredt Ranche nie zurückkommt. Er ist auf dem Schlachtfeld gefallen, allerdings nicht im Krieg gegen die Goten. Seine eigenen Landsleute haben ihn in Notwehr getötet.
  • Christian IV. löste nie einen Volksaufstand gegen sich selbst aus und hat sich nicht in dieser aggressiven Gestalt erkannt. Charlhøvde trägt einen Vornamen, der den König an seinen schwedischen Erzfeind erinnerte. Herzog Karl entstammte mütterlicherseits dem Geschlecht Leijonhuvud (‚Löwenkopf‘) und entbehrte noch 1603 der Königswürde. Er konnte also seinen ‚Löwentitel‘ nicht beanspruchen und war nur ein Huvud. Das dänische Wort høved (‚Vieh‘) hatte mehrere Nebenbedeutungen, darunter ‚Dummkopf‘. Charlhøvde konnte also leicht als ein Schimpfwort für den schwedischen Herzog verstanden werden (Andersen 2007, S 351). Bei Saxo handelt es sich jedoch um einen dänischen Krieger, und das Wort karl (‚Kerl‘) hat ebenfalls viele Bedeutungen und bezeichnet besonders einen jungen Mann. Charlhøvde ist deshalb auch als ‚junger Dummkopf‘ zu verstehen. Es ist außerdem an die phonetische Beziehung zu Chremilds Schloss Carheideburg zu erinnern. Dort ist Ranche aufgewachsen. Venusin verändert absichtlich Vedels Form Carlshøy (‚Karlshügel‘), um sie mit der Saxo-Figur zu verbinden. Charlhøvde und Carheideburg befinden sich lautlich in der Mitte zwischen Carlshøy und Karlhofthus. Die Namensformen des Märchens sind auch von der ersten gedruckten Karte von Ven beeinflusst. Um 1588 veröffentlichte der Kölner Theologe Georg Braun eine Karte mit einer kurzen Zusammenfassung der Sage, die der Grimildballade zugrunde liegt. Es ist der frühste Beleg für die Übertragung der Nibelungensage auf Ven. Vedel hatte dem deutschen Theologen vermutlich die Vorlage der Karte vermittelt und die Hauptzüge der Grimildballade in einem Anhang erklärt. In der Erklärung der gedruckten Karte wird das Schloss Karhecidia genannt (Braun 1588, S. 27 = farbige Hochauflösung).
  • In der Gestalt Charlhøvde kann der König auch einen anderen Erzfeind erkannt haben, und zwar Tycho. Früher bedeutete das Wort høvde nämlich ‚Halbinsel‘ oder ‚Kap‘ und überlebt heute als høfde mit der Bedeutung ‚Buhne‘, also als Bezeichnung für einen dammartigen Vorbau aus Pfählen und Steinen zum Schutz der Küste. Diese Bedeutung könnte als versteckter Hinweis auf Tychos berühmte Kunstnase verstanden werden. Etwa zwei Jahre vor Venusin bezeichnet Hamlet in einer längeren Tirade die Erde als einen „unfruchtbaren Kap“ (Hamlet II 264: sterile promontory) und macht sich dabei nach einer bemerkenswerten Interpretation über Tycho lustig (Usher 2010, S. 119). Der Astronom sah die Erde als sein Fundament. Es ist kein Zufall, dass sein Doppelgänger in der Hvenischen Chronik erklärt, sein Schicksal und sein Glück seien auf der Erde (HC 1711: paa Jordenn) zu finden, nicht auf der See.
  • Eine andere Verbindung zwischen Charlhøvde und dem Astronomen besteht in der Angabe, dass er von den Bewohnern angegriffen wird, während er „vor dem Gericht sitzt“ (HC 1711: sidder for rettenn). Nach der Krönung Christians IV. wurde ein Prozess gegen Tycho angestrengt, und dies führte zu seiner Ausreise nach Deutschland. In der Forschung wird diskutiert, ob er sein Vaterland freiwillig verließ. Das ist logischerweise seit jeher die Erklärung der dänischen Royalisten gewesen. Sie werfen ihm vor, seine Position als Vasall des neuen Königs nicht akzeptiert zu haben. Sie haben wahrscheinlich Recht, aber es ist gleichzeitig eine Tatsache, dass die Anklageschrift einen so schwerwiegenden Inhalt hatte, dass der Astronom sein Leben riskiert hätte, wäre er in Dänemark geblieben. Wie seine deutsche Entsprechung ist das dänische Wort ret zweideutig und bedeutet auch ‚Speise‘. Charlhøvde wird also wörtlich beim Essen angegriffen. Am 13. Oktober erkrankte Tycho tatsächlich bei einem verhängnisvollen Bankett, und es gehört wegen der Folgen zu den berühmtesten des ganzen 17. Jahrhunderts.
  • Zum Schluss ist noch die Chronologie des letzten Abschnittes zu erklären. Ranche stellt mit 19 zwölf starke Schonen ein und gibt ihnen zwei Jahre lang ihren Sold, also bis er 21 ist, mit anderen Worten bis 1598. Im dritten Jahr unternimmt er mit ihnen den Feldzug und wird dabei unter dem Beinamen ‚Karl Dummkopf‘ getötet. Sein Tod erfolgt nicht 1599, sondern erst 1603, denn es muss sich um das dritte Jahr des neuen Jahrhunderts handeln. In ähnlicher Weise stirbt Hogen, wie bemerkt, „kurze Zeit“ nach der Jahrhundertwende. Die letzten Zeilen beschreiben also nicht die unmittelbare Vergangenheit oder die Gegenwart, sondern die Zukunft. Venusin träumt vom Tod des jungen Königs und hofft auf einen Volksaufstand. Während des Kriegszugs wird das Land ganz kurz von Huenild regiert. Sie führt eine Politik, die auf Freiheit und Frieden basiert. Ohne falsche Versprechen noch Geldspenden gewinnt sie das Vertrauen der Bevölkerung und befördert sogar die Einwanderung. In dieser Zukunftsutopie schildert der Dichter seinen Idealstaat, offensichtlich eine platonische Republik der Weisheit. Die dänische Realität sah ganz anders aus und wurde im Ausland hart beurteilt. Auf der englischen Bühne wurde der Staat, d.h. die Monarchie, sogar als „faul“ beschrieben: Something is rotten in the state of Denmark (Hamlet I 4,90).

Der Schatz (HC 13–277, 16 Belege)

  • Das Hauptmotiv des Märchens ist der Schatz. Er ist fester Bestandteil der Nibelungensage seit dem Waltharius. Die einzige Ausnahme ist der Rosengarten zu Worms. Die unmittelbaren literarischen Vorbilder für dieses Motiv sind die Grimildballade, die Didrikskrönikan und vielleicht auch der Hürnen Seyfrid, wo der Schlüssel eine wichtige Rolle spielt. Der Schatz findet unter verschiedenen Bezeichnungen Erwähnung. Er wird am Anfang und am Ende mit demselben Ausdruck als ein „großes Vermögen“ beschrieben (HC 13, 277: stort liggende fæ). Er hat sich also im Laufe der Erzählung nicht vermindert und endet in Huenilds Besitz. Der Schatz besteht „aus Silber und Gold“ (HC 13: Aff sølff oc guld), aber das billigere Edelmetall wird nur einmal erwähnt. Dagegen ist zwölfmal von Gold die Rede, besonders in der Schlussepisode (HC 13, 2312, 2315, 2318, 2321, 2322, 253, 254, 2516, 2618, 276). Nur einmal wird der Inhalt des Bergs als „Schatz“ bezeichnet (HC 153: sin skatt). Zweimal finden wir die Variante „Kleinod“, bald im Plural (HC 2223: Nøglings klenoder) bald im Singular (HC 2229: Klenodett).
  • Der Schatz wird an einem Ort verwahrt, der 14-mal nur als „der Berg“ beschrieben wird, immer mit suffigiertem Artikel, bis auf eine Ausnahme (HC 2416) immer kleingeschrieben (HC 17, 111, 1513, 2216, 2225, 2318, 2324, 2325, 2413, 2416, 2520, 2527, 275, 279: bierget, biergett, biergiidt, biergidt, biergitt). Dreimal benutzt Venusin ein großgeschriebenes Proprium ohne bestimmten Artikel und nennt den Ort Hammersbierg (HC: 15, 1516, 262). Dieser Name knüpft an das Schloss an, das Vedel zweimal Hammeren nennt. Nach seiner Beschreibung zu urteilen, liegt es auf einem Hügel namens Hammershøy. Hammeren ist der 26 Meter hohe Felsen an der nördlichen Küste von Bornholm, wo die Festung Hammershus sich früher erhob. Sie diente zu Vedels Lebzeiten tatsächlich als Schatzkammer. Durch die Umbenennung des Orts entfernt sich Venusin von der zeitgenössischen Festung und spricht übrigens nie von einer Residenz in der Nähe des Bergs.
  • Wie bei Vedel ist im Märchen von vier Schlössern die Rede, aber nur drei davon werden mit Namen erwähnt. Das anonyme Schloss muss dasjenige von Folgmar sein. Es symbolisiert also im übertragenen Sinne den Lilienberg in Ribe. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden die dänischen Schlösser alle von ihren Erbauern durch die Namensgebung als Burgen bezeichnet, so Kronborg, Frederiksborg, Uraniborg, Sonderburg und Glücksburg an der Flensburger Förde. Nur Vedel nannte seine Residenz einen Berg. Der erste Teil des Namens Hammersbierg stammt aus der Grimildballade, der zweite Teil ist eine bewusste Veränderung von høy (‚Hügel‘). Vielleicht verwahrt Folgmar den Schatz, obwohl Hogen den Schlüssel dazu besitzt.
  • In der Hvenischen Chronik spielt der Schlüssel eine Hauptrolle. In Venusins Vorlagen wird dieser für den Zugang zur Schatzkammer unentbehrliche Gegenstand nur beiläufig erwähnt. Das Märchen hat acht Belege für das Wort „Schlüssel“, meist mit bestimmtem Artikel (HC 110, 21, 22, 1514, 2213, 2218, 2225, 2325: nøgelenn, nøgell, nøgle, nøglen, nøglenn). Hinzu kommen drei Belege, wo vom „Zauberschlüssel“ die Rede ist (HC 16, 229, 278: throlnøgle, throldnøgle). Hogen spricht eine Zauberformel aus, um sich Zugang zum Berg zu verschaffen (HC 1514f), Ranche fügt den Schlüssel einfach ins Schloss (HC 2325). Das funktioniert genauso gut.
  • Der Schatz ist das vereinende Element zwischen den drei Geschwistern, deren historische Vorbilder keine biologische Verwandtschaft hatten. Deshalb muss er den Inhalt des Hundertballadenbuchs symbolisieren. Die Sammlung entstand nach einer Begegnung zwischen Vedel, Tycho und Sophie von Mecklenburg, und der Druck wurde vom Herausgeber mit einer Widmung an die Königin und mit einem Lobgedicht auf den Astronomen versehen. In diesen Versen wird Tycho als symbolischer Alchemist verherrlicht. Mit seiner Feder hatte er in Vedels Augen das Erz der Insel in Gold verwandelt. Mit dem Hundertballadenbuch im Allgemeinen und insbesondere mit der Grimildballade, dem Prunkstück der Sammlung, trat Vedel als symbolischer Goldmacher in die Fußstapfen seines Freundes. Wenn Venusin einen Teil des Schatzes als Silber beschreibt, dürfte das als Kritik an einigen Balladen gemeint sein. Nicht alle Gedichte hatten für ihn dieselbe Qualität wie die Grimildballade. Das gedruckte Hundertballadenbuch endete im Besitz der Königin und der übrigen Bevölkerung. Nach ihrem Verweis auf das Schloss in Nykøbing Falster konnte sie bis zu ihrem Lebensende das Buch lesen. Es ist in dieser Hinsicht wichtig zu unterstreichen, dass der Schatz in dem Moment, wo Chremild endlich in den Berg tritt, überhaupt nicht beschrieben wird, nicht einmal als Gold. Wir finden nur zweimal das Neutrumspronomen dett (HC 243, 244). Chremild nimmt „es“ in ihre Hände und hält „es“ vor ihre Augen. Vielleicht liest sie einfach ein spannendes Buch. Eine entscheidende Unterstützung für die Interpretation des Schatzes als Allegorie für Dichtung schlechthin ist der Umstand, dass der Inhalt des Berges in Huenilds Besitz endet. Um sein Märchen zu schreiben, benutzte Venusin nicht nur gedruckte Quellen, sondern besorgte sich auch die Handschrift der Didrikskrönikan, die Vedel zur Grimildballade angeregt hatte und die vermutlich früher dem Brahe-Geschlecht gehört hatte. Die Bibliothek im Lilienberg war mit anderen Worten eine Schatzkammer. Vedel betrachtete sie selbst als Speisekammer und bezeichnete sie in einem persönlichen Katalog als Promus Condus, eigentlich ‚Proviantmeister‘ (Westphalen 1745, Sp. 1585–1596). In seiner noch ungedruckten Rede vom 13. Juli 1602 benutzte Venusin denselben Ausdruck und forderte seine Studenten dazu auf, aus alten und neuen Schätzen der Weisheit zu schöpfen, um den Titel als „Hüter der Weisheit“ zu verdienen (NKS 271 8to, S. 107: condi promi […] sapientiæ). Er hatte die Hvenische Chronik damals noch nicht vollendet und vielleicht nicht einmal angefangen, und schon ging es ihm darum, Huenilds Erbe an die künftigen Generationen zu vermitteln. Der Ausdruck promus condus stammt aus einer Komödie des Plautus und bezeichnet hier den Hüter eines privaten Schatzes (Pseudolus II 2).
  • In einem Fall scheint der Schatz etwas ganz anderes zu symbolisieren als die Poesie. Nach seinem Ausrutschen vor Chremild besucht Hogen seinen Schatz im Berg und bleibt dort bis Mitternacht. Erst danach geht er zum Grab seines Vaters und hört das Orakel. Gold wird in dieser Passage nicht erwähnt. Hogen benutzt auf den ersten Blick nur den Berg als Versteck. Vielleicht besucht er in Wirklichkeit Chremild und macht sie schwanger. Das Wort skat ist zweideutig und kann auch als ‚Liebling‘ verstanden werden. Chremild und Huenild gebären ihre Söhne in derselben Nacht, aber haben ihre Kinder nicht unbedingt zeitgleich empfangen. Zwischen Hogens Schatzbesuch und seinem Beischlaf mit Chremilds Dienerin verlaufen höchstens ein paar Tage.

Verfasser

  • um 1559: Geburt auf Ven oder in Landskrona, vielleicht als Sohn von Friedrich II. und Anne Hardenberg
  • bis 1568: Kinderjahre in Landskrona beim verheirateten Pfarrer Jakob Jonsen
  • um 1568: Übersiedlung auf Seeland und Aufnahme an der Schule von Frederiksborg
  • Mai 1577: Immatrikulation an der Universität von Rostock
  • Oktober 1579: Immatrikulation an der Universität von Wittenberg
  • 03.12.1579: Anfang in Bratislava einer Reise durch Italien und die Schweiz
  • 24.03.1580: Begegnung mit Anders Krag in Worms
  • 09.09.1580: Magister in Wittenberg
  • Anfang 1584: Pfarrer und Propst von Herfølge auf Südseeland
  • 09.07.1587: Pfarrer und Propst der Heiliggeistkirche in Kopenhagen
  • 19.07.1588: Unterlassung der Teufelsvertreibung bei einer Taufe
  • 13.10.1588: Predigtverbot
  • 03.04.1590: Letzte Benutzung des Beinamens Coronensis in einer Urkunde
  • 20.05.1590: Reise auf Ven zusammen mit Geschichtsprofessor Niels Krag
  • 1592: Veröffentlichung zweier Huldigungsgedichte auf Uraniborg unter dem Beinamen Huenensis
  • 06.12.1594: Anfang der Gellius-Affäre in Venusins Pfarrhaus
  • Anfang 1595: Zensur eines Traktats unter dem Rektorat von Anders Krag
  • 14.05.1595: Annahme des Beinamens Venusinus in einem Brief an Arngrimur Jónsson
  • 25.02.1596: Anfang des Gellius-Prozesses mit Venusin als Zeuge gegen den Angeklagten
  • August 1599: Begegnung mit Sophie Brahe in Landskrona und Anfang der Mercurius-Affäre
  • 16.07.1600: Ernennung zum Physikprofessor als Nachfolger von Anders Krag
  • 29.08.1601: Schließung der Universität und Abreise von Kopenhagen
  • 12.10.1601: Mögliche Begegnung als italienischer Botschafter mit Erik Brahe in Prag
  • 15.10.1601: Mögliche Begegnung als Malteserritter mit Erik Brahe in Prag
  • 18.01.1602: Rückkehr an die Universität von Kopenhagen
  • 22.05.1602: Ernennung zum königlichen Historiographen als Nachfolger von Niels Krag
  • 28.05.1602: Wahl zum Dekan der Philosophischen Fakultät
  • 13.07.1602: Lob auf Copernicus bei der Magisterpromotion
  • August 1602: Übernahme der Handschriftsammlung von Niels Krag
  • 27.03.1603: Vollendung der Hvenischen Chronik
  • 13.04.1603: Wechsel zum Professor der Rhetorik
  • 10.06 1606: Abreise nach London als königlicher Redner zusammen mit Christian IV.
  • 30.08.1606: Rückkehr nach Kopenhagen
  • Ende 1606: Niederlage gegen Theologieprofessor Hans Poulsen Resen im Exorzismusstreit
  • 01.05.1607: Ernennung zum Vorsteher der königlichen Schule in Sorø
  • 29.01.1608: Spurloses Verschwinden in Sorø

 

  • Der Dichter des sonderbaren Märchens war ein sonderbarer Mann. Die im Epilog auf verschlüsselte Weise beanspruchte Abstammung von Friedrich II. liefert eine gute Erklärung für seinen Hass gegen das Trio Tycho, Sophie und Christian.
  • Venusins Existenz ist zum ersten Mal durch seine Immatrikulation in Rostock im Mai 1577 belegt. Er nannte sich damals Jonas Jacobi Coronensis (Hofmeister 1891, S. 192). In seiner Fürsprache zwei Jahre später erinnerte Chyträus den König daran, dass sein dänischer Student von seinem Vater, dem Pfarrer von Landskrona, an die Schule von Frederiksborg geschickt worden war und dort sechs Jahre studiert hatte. Diese Schule wurde 1568 gegründet, und der Dichter dürfte zu den ersten Schülern gezählt haben. Das ist alles, was sich mit Sicherheit über seine Kindheit und Jugendzeit erschließen lässt. Es ist unbekannt, wann, wo und von welchen Eltern er geboren wurde. In seiner Rede vom 13. Juli 1602 erklärt er nur, er sei bereit, seine Meinung zu ändern, obwohl er „schon lange das Alter von 40 Jahren“ erreicht habe (NKS 271 8to, S. 131: quamvis quadragesimum jam diu excesserim ætatis annum).
  • Der ältere Beiname Coronensis verweist in erster Linie auf die schonische Küstenstadt Landskrona, der spätere Beiname Venusinus auf Ven. Nur in der Hvenischen Chronik beansprucht er ausdrücklich die Insel als Geburtsort. Jakob Jonsens Vergangenheit liegt ebenfalls im Dunkeln. Er ist nur als Pfarrer von Landskrona belegt. Er betreute dieses Amt ab 1563 und war dreimal verheiratet, 1568 mit einer Gertrud Ibsdatter, 1572 mit einer Margrethe und ab 1573 mit einer Inger Pedersdatter. Seine dritte Frau gab ihm sieben Kinder und starb 1585 an der Pest. Er widmete ihr eine versifizierte Grabinschrift und betätigte sich also als Dichter. Er endete seine geistliche Karriere als Propst und starb 1599 oder 1600 (Andersen 2007, S. 40f). Auf dieser Quellengrundlage wurde früher vermutet, dass Jakob Jonsen seine Karriere um 1555 auf Ven als Pfarrer der Sankt Ibb-Kirche begann, dass er damals schon mit Gertrud verheiratet war und dass sie ihm vor der Thronbesteigung Friedrichs II. im Jahr 1559 unseren Dichter gebar (Rørdam 1904, S. 393–396; Carlquist 1959, S. 361–363).
  • An dieser Herkunft wird heute stark gezweifelt. Venusin scheint nämlich sich selbst als Sohn Friedrichs II. betrachtet zu haben, und vielleicht verhielt es sich tatsächlich so. Als Kronprinz kam Friedrich II. 1554 auf die Festung Malmöhus südlich von Landskrona. Hier traf er die Liebe seines Lebens, Anne Hardenberg. Sie war die Nichte des Schlossverwalters Eiler Hardenberg und diente anscheinend dort als Hofjungfrau. Ihr Onkel stand dem Kronprinzen sehr nah und wurde nach dessen Krönung zum Reichshofmeister erhöht. Über die Beziehung zwischen Friedrich II. und Anne Hardenberg ist wenig Sicheres bekannt. Es liegen nur drei indirekte Zeugnisse vor. Um 1558 wollte der dänische Aristokrat Oluf Mouritsen Krognos offenbar die Mätresse des Königs heiraten, denn Königin Dorothea bat damals in einem Brief ihren Sohn, das Glück von „Fräulein Hardenberg“ nicht zu verhindern. Bis zum Ende des Kriegs muss Friedrich II. die unerwünschte Beziehung fortgesetzt haben, denn 1569 teilte er seiner Tante Elisabeth, Herzogin von Mecklenburg, er habe die Absicht, eine dänische Adelsfrau zu heiraten. Dieser Plan scheiterte an einer zähen Tradition: das dänische Königshaus vermischt nie sein Blut mit dem einheimischen Adel. Nach dem missglückten Krieg biss Friedrich II. in den sauren Apfel und heiratete mit dem Segen der Kirche seine deutsche Halbkusine. Ihre Mutter Elisabeth war die Halbschwester von Friedrichs II. Vater. Die Blutsverwandtschaft wurde von einer geistlichen Kommission überprüft und genehmigt.
  • Nach der königlichen Hochzeit drückte Anne Hardenberg in einem Brief ihre Erleichterung aus und heiratete am 11. Januar 1573 den dänischen Aristokraten, der fünfzehn Jahre lang geduldig auf ihre Hand gewartet hatte. Er starb nach einer auffällig kurzen Ehe am 25. Juni desselben Jahres. Die vorliegenden Quellen lassen uns nicht erahnen, ob der König seine alte Beziehung zur Witwe wieder aufnahm und ob er den Tod ihres Ehemanns irgendwie beschleunigte. Anne Hardenberg verbrachte ihre letzten Jahre auf ihrem Leibgedinge Bregentved auf Seeland. Sie verkaufte diesen Hof, und 1581 kam er an den Reichsrat Steen Brahe, den jüngeren Bruder des Astronomen. Trotz des Verkaufs zog sie nicht um und starb 1589 auf Bregentved. In den Jahren 1584–1587 muss sie Venusin regelmäßig gesehen haben. Er war damals Pfarrer in Herfølge nur 15 km von Bregentved entfernt und muss ein häufiger Gast bei Steen Brahe gewesen. Er dichtete zwei lateinische Inschriften, die an der Tür und am Kamin des Hofs zu sehen waren (Rørdam 1874–1877, S. 238f = NKS 271 8to, S. 162, 169).
  • Diese beschränkte Quellenlage lässt großen Spielraum für Spekulationen. Wenn Venusin tatsächlich Anne Hardenbergs Sohn war, muss sie ihn um 1558 empfangen haben. Der Wille des Kronprinzen, sie gerade zu diesem Zeitpunkt zu heiraten, könnte mit einer Schwangerschaft zusammenhängen. Nach der Geburt wurde das Kind vielleicht deshalb Jakob Jonsen anvertraut, weil dessen erste Frau unfruchtbar war. Wenn wir von Venusin absehen, waren die beiden ersten Ehen des Pfarrers anscheinend kinderlos. Es ist vorstellbar, dass die Schwangerschaft und die Niederkunft der Hofjungfrau durch eine Entfernung auf die isolierte Insel Ven verheimlicht wurden. In diesem Fall konnte das Kind zu den Lebzeiten seiner biologischen Eltern seinen wahren Geburtsort nicht enthüllen und musste sich nach dem Wohnsitz seiner Adoptionsfamilie Coronensis nennen. Er benutzte diesen Beinamen zum letzten Mal am 3. April 1590 in einer Urkunde, die er in Kopenhagen als Pfarrer zusammen mit dem Bischof von Seeland unterzeichnete (Rørdam 1873, S. 144; Andersen 2007, S. 374). Er scheint sich tiefsinnige Überlegungen über diese Namensform gemacht zu haben, denn in Wittenberg ließ er sich am 19. Oktober 1579 als Coronanus immatrikulieren, und im Oktober 1580 begnügte er sich in Rostock mit Danus (Hofmeister 1891, S. 203).
  • Coronensis war der gewöhnliche Beiname für Gelehrte aus Landskrona. Das Wort ist von corona abgeleitet und bedeutet wörtlich ‚jemand von der Krone‘. In Venusins Fall könnte der Beiname im übertragenen Sinne als ‚Königssohn‘ verstanden werden. Der Stadtname hängt damit zusammen, dass Landskrona bei seiner Begründung um 1400 durch Erik von Pommern als Hauptstadt der Kalmarer Union gedacht war. Wenig später wurde in der Stadtmitte eine große Kirche aufgeführt. Sie ist auf einer Karte von Georg Braun zu sehen (1588, S. 29 = farbige Hochauflösung). Nach 1755 wurde sie abgerissen, und heute sind nur noch einige Ruinen im Stadtpark übrig.
  • Nach dem Tod von Friedrich II. 1588 und Anne Hardenberg kurz danach gab Venusin seinen ursprünglichen Beinamen auf. Einen Monat nach der Unterzeichnung der bischöflichen Urkunde fuhr er nach Ven zusammen mit Niels Krag und zwei anderen Männern aus Kopenhagen. Der Besuch auf Uraniborg fand am 20. Maj 1590 statt (Dreyer 1927, S. 85: Hafnia nos inviserunt d[ominus] Nicolaus Krag, m[agister] Ionas, m[agister] Michael, Laurentius Mul[e]). Nach dem Besuch schrieb Venusin zwei Huldigungsgedichte, die 1592 im Erstdruck des Werks Astronomiæ instauratæ progymnasmata (‚Vorübungen zu einer erneuerten Astronomie‘) auf Uraniborg vom Astronomen selbst gedruckt wurden (Dreyer 1927, S. 217; mit deutscher Übersetzung: Andersen 2007, S. 377, 388f). Sie sind mit dem Beinamen Huenensis unterzeichnet, der eindeutig auf Ven verweist. Venusin muss dem Wirt die Insel als seinen Geburtsort beschrieben haben. Selbst hat er nie dieses äußerst seltene Adjektiv verwendet. Es scheint von Tycho zu stammen, denn wir finden es zum ersten Mal in seinen geographischen Aufzeichnungen aus den Jahren 1578–1579 (Dreyer 1923, S. 295, 299).
  • In den folgenden Jahren galt Venusin in den Augen der meisten Dänen als einer der größten Verehrer des Astronomen. 1594 hätten die beiden Männer sogar Schwäger werden können. Venusin hatte 1589 seine erste Frau Agathe Sascerides verloren und war damals mit Katharina Dankertsdatter verheiratet. Sie hatten am 6. Dezember 1594 die Brüder Krag zum Essen mit Bier und Wein in dem zur Heiliggeistkirche gehörigen Pfarrhaus eingeladen, als Gellius Sascerides, der Bruder von Agathe, plötzlich betrunken hereintritt und erklärte, er habe die Verlobung mit Magdalene Brahe, der Tochter des Astronomen, gekündigt. Diese Entscheidung führte zu einem längeren Prozess. Tycho wollte Venusins Schwager zur Ehe zwingen und war offenbar im Besitz eines von ihm unterzeichneten Heiratsvertrags. 1595 unterhielt sich der Astronom mehrmals mit Venusin und lud ihn als Zeuge gegen Gellius vor. Er verlor trotzdem den aufsehenerregenden Prozess im März 1596.
  • In dieser Zeit hatte Venusin andere Sorgen als die Heiratspläne seines Schwagers. Anfang 1595 versuchte er einen lateinischen Traktat über Philologie, Philosophie und Theologie zu veröffentlichen und stieß auf die Zensur der Universität. Als Rektor fungierte Physikprofessor Anders Krag, dem er ein paar Wochen früher Essen, Bier und Wein geschenkt hatte. Wie bemerkt, kannten die beiden Männer sich seit 15 Jahren. Bei ihrer ersten Begegnung in Worms hatte Anders Krag erklärt, echte Freundschaft bestätige sich in einer Notlage. In Venusins Augen war die Zensur ein Verrat. Wir kennen heute nur den Titel des Traktats aus einem Brief vom 14. Mai 1595. Venusin schrieb an seinen isländischen Freund Arngrimur Jónsson und beschwerte sich hier über die Zensur und die dominierende Position der Aristoteliker an der Universität (Jónsson 1622, S. 83f; dänische Teilübersetzung: Andersen 1907, S. 180). Er unterschrieb den Brief mit Venusinus, ohne den neuen Beinamen zu erklären. Der gelehrte Isländer dürfte ohne Schwierigkeiten die Anspielung auf Horaz verstanden haben.
  • Der italienische Dichter kam aus Venusia in Süditalien und wurde deshalb in Suetonius‘ Biographie als Horatius Flaccus Venusinus vorgestellt. Horaz verwendet auch einmal selbst dieses Adjektiv. In einem Frühwerk reflektiert er über seine Sendung als Dichter und wird von einem fiktiven Gesprächspartner vor die Wahl gestellt, entweder Huldigungsgedichte an die Machthaber zu verfassen oder zu schweigen. Horaz wählt einen dritten Weg und beschließt, sich an Venusinus, dem eponymen Begründer seiner Geburtsstadt, ein Beispiel zu nehmen. Dieses Vorbild wurde in der grauen Urzeit von Rom nach Venusia geschickt, um dort die Felder friedlich zu pflügen und so das Land von den Feinden zu schützen. Als einzige Waffe nahm dieser Bauer seinen Griffel (stilus) mit und warnte: „Und dieser Griffel soll ungereizt kein lebendes Geschöpf angreifen und mich bloß gleich einem Schwert beschützen. […] Doch wer mich neckt — weh ihm, schreie ich! — wird es beweinen, denn ich werde ihn zum Gespött der ganzen Stadt besingen.“ (Sermones II 1,39f, 44–46: Sed hic stilus haud petet ultro / quemquam animantem et me veluti custodiet ensis. […] at ille, / qui me conmorit — melius non tangere, clamo —, / flebit et insignis tota cantabitur urbe, dt.: Wieland 1804). So wollte auch der dänische Venusin seinen Kampf weiterführen.
  • 1595 konnte er nicht mit der Hilfe des Astronomen rechnen. Tycho bot ihm keineswegs an, den Traktat auf Uraniborg zu drucken, und veröffentlichte dagegen im Frühling 1596 seine eigene astronomische Briefsammlung. Sie kam einige Tage nach dem verlorenen Prozess heraus. In einem Anhang konnte man auf einer Karte von Ven lesen, dass die Insel unter Gelehrten Venusia hieß. Nur das gemeine Volk nannte sie Huenna. (Brahe 1596, S. 264 = Dreyer 1919, S. 295: Topographia insulæ Venusiæ vulgo Hvennæ = Brahe 1598, S. H4v = Dreyer 1923, S. 150) Diese Umbenennung hing zweifellos mit Venusins Namenwechsel zusammen und muss eine Idee des zensurierten Pfarrers gewesen sein. Mit anderen Worten stahl der Astronom einen genialen Namen und pfiff auf die Urheberrechte. Im Hundertballadenbuch hatte Vedel Ven durch die Jungfrau Huenild als Schönheitsinsel verherrlicht, aber ohne den Namen im Geringsten mit Horaz oder der Göttin der Liebe in Verbindung zu bringen. Nach der Veröffentlichung der Briefsammlung begann Venusin dem Astronomen den Rücken zu kehren. Wie wir es sehen werden, hat er sich auch insgeheim über eine spöttische Bemerkung des Astronomen über den italienischen Philosophen Giordano Bruno empört.
  • Ende 1599 oder Anfang 1600 starb Jakob Jonsen. Am 16. Juni 1602 lud Venusin den Nachfolger des Pfarrers von Landskrona zur Magisterpromotion ein und bezeichnete zweimal den Verstorbenen als seinen parens (Rørdam 1868–1874, S. 521). Das Wort ist allgemeiner als pater, wurde aber gewöhnlich als Synonym dafür benutzt. Venusin beansprucht dieselbe Abstammung in der letzten Zeile der Hvenischen Chronik und verwendet hier das eindeutige Wort fader. Im Epilog des zweideutigen Märchens ist die Angabe allerdings höchst verdächtig. Aus welchem Grund sollte der Dichter plötzlich von seinem verstorbenen Vater sprechen? Er war selbst Professor geworden, der Pfarrer seit Jahren verstorben und von den meisten schon vergessen.
  • Die mit Nachdruck beanspruchte Abstammung vom „Pfarrer von Landskrona“ unterstützt die neue Vaterschaftshypothese. Kurz nach Venusins Geburt wurde Friedrich II. gekrönt. Er war als König höchster Vertreter der Kirche und trug deshalb „später viele Jahre als geistliches Oberhaupt die Krone des Landes“. So könnte der befremdende Schlusssatz im Klartext wiedergegeben werden. Das dänische Wort prest (‚Priester‘) ist durch Lateinisch presbyter von Griechisch πρησβύτης (‚Greis‘) abgeleitet. Das entsprechende Adjektiv πρέσβυς bedeutet ‚alt‘, ‚ehrwürdig‘ und im übertragenen Sinne ‚Oberhaupt‘. Wenn Venusin Fremdwörter benutzte, hatte er ihre genaue Etymologie im Kopf. Im letzten Satz der Hvenischen Chronik, dem persönlichsten Werk seines Lebens, gibt der Dichter also zu verstehen, dass er der leibliche Sohn des verstorbenen Königs ist.
  • Wenn es sich so verhält, bekommt Huenild als Venusins literarisches Selbstporträt die Ahnentafel, die ihr auf den ersten Blick fehlt. Sie muss die Tochter von Sigfrid Horn und Melusina sein. Die Dienerin hat die Manieren einer Adeligen und wird im Orakel als Riesensprössling präsentiert. Wenn Huenild Sigfrids Tochter ist, hat sie tatsächlich Riesenblut in ihren Adern.
  • Die von Venusin durch die letzte Zeile des Märchens beanspruchte Abstammung von Friedrich II. erklärt seine Abneigung gegen Sophie von Mecklenburg. Die Königin stand ja der Beziehung zwischen dem König und Anne Hardenberg im Wege. Die Darstellung Christians II. als Tychos Bastard wird auch verständlicher, wenn Venusin sich als der einzige leibliche Sohn des Königs betrachtete. Die königliche Abstammung kann jedoch nicht den Dichter zum Mörder gemacht haben, denn er hatte wegen der Herkunft seiner Mutter keine Aussicht auf eine offizielle Thronbesteigung. Seine mutmaßliche Rache traf übrigens nicht Christian IV., sondern Tycho und die Brüder Krag.
  • Ausschlaggebend war eine gegenseitige Verleumdung ohne direkte Begegnung. Im Spätsommer 1599 traf Venusin Sophie Brahe, die jüngere Schwester des Astronomen, in Landskrona, vermutlich anlässlich des Begräbnisses seines eigenen offiziellen Vaters. Sie sprachen von ihrem Bruder, der damals gerade zum kaiserlichen Hofmathematiker ernannt worden war. Venusin warnte Sophie Brahe und prophezeite eine baldige Absetzung ihres Bruders. Das berichtet sie selbst dem Astronomen in einem Brief vom 24. Oktober desselben Jahrs. Sie nennt ihren Gesprächspartner in Landskrona Mercurius (Dreyer 1928, S. 158 = Zeeberg 1990, S. 267). In einer Antwort vom 21. März 1600 weist Tycho die Verleumdung zurück und vergleicht die Unbeständigkeit des unheilvollen dänischen Propheten mit dem gleichnamigen Planeten. Auch er benutzt nur den Beinamen Mercurius (Dreyer 1928, S. 180 = Zeeberg 1990, S. 275). In einem anderen Brief, den er drei Tage später an Niels Krag schickte, beschwert er sich erneut über „jenen unbeständigen und verschmitzten Merkur“ (Dreyer 1925, S. 278: instabilem illum et versipellem Mercurium). Dass dieser anonyme Verleumder und Verräter mit dem ehemaligen Schmeichler Venusin identisch ist, kann als erwiesen betrachtet werden (vgl. Andersen 2009, S. 213–216).
  • Niels Krag muss Venusin seinen Brief gezeigt haben, denn Letzterer bezog sich ausdrücklich auf die Beschimpfung im mythologischen Gedicht Urania Titani, das Ende 1601 im Palast des Astronomen in Prag entdeckt wurde. Urania warnt ihren ehemaligen Liebhaber Titan gegen das „launische Quecksilber“ (Dreyer 1927, S. 194: Mercurios […] vafros). Dieses Gedicht ist genauso verschlüsselt wie die Hvenische Chronik und ebenfalls als Spiegel der damaligen Gegenwart zu sehen. Auf den ersten Blick schreibt die Witwe Sophie Brahe an ihren Liebhaber Erik Lange, der sie verlassen hatte, um Gold im Süden zu suchen. Bei genauerem Hinschauen ist Urania, wie schon bemerkt, als Darstellung der verlassenen und verwitweten Königin Sophie zu deuten, und sie richtet sich an Tycho. Die Lage der beiden Männer war vergleichbar. Tiefer betrachtet, trägt die Muse der Astronomie selbstbiographische Züge, denn im lyrischen Ich ist auch der Dichter selbst zu erkennen. Die Warnung gegen das Quecksilber, auf Latein mercurius, ist also eine Warnung des Dichters gegen ihn selbst. Ob Tycho die Warnung jemals las, muss dahingestellt bleiben. Er hat sie zumindest nicht selbst verfasst, wie die traditionelle Forschung es noch vor wenigen Jahren annahm (Zeeberg 2002).
  • Im April 1600 verstand Venusin höchstwahrscheinlich, dass Tycho ihm einen höhnischen Spitznamen gegeben hatte und ihm gleichzeitig den selbstgewählten Beinamen Venusinus verweigerte. Schon in den Astronomiæ instauratæ Progymnasmata hatte der Astronom ihn unpoetisch als Huenensis präsentiert, obwohl Venusin in einem seiner beiden Gedichte das stumme h im Inselnamen weggelassen hatte. Er nannte Ven „Venelas Land“ (Dreyer 1927, S. 217: Venelæ […] tellus, vgl. Andersen 2007, S. 387). Dieser Ausdruck bezog sich auf die Grimildballade, in welcher Ven zweimal als Huenilds Land bezeichnet wird (Vedel 1591, Bl. E2r = 31619, Bl. E5v–6r = GBC 5, 9). Venusins Gedicht von 1592 ist der erste Beleg für den Wegfall des stummen h nicht nur im Inselnamen, sondern vielleicht in der dänischen Schriftsprache überhaupt. In der Aussprache war der vorkonsonantische Anlaut schon im Laufe des Mittelalters in den meisten Mundarten verschwunden. Deshalb befürwortete Venusin eine dänische Rechtschreibungsreform. 1594 veröffentlichte er ein Gedicht über die Weisheit und ließ einfach alle stummen Buchstaben weg, so wer statt huer (‚jeder‘). Er übernahm auch das schwedische å für aa (Lauritzøn 1594, Bl. B4v-C1r). Der zweite Reformvorschlug wurde 1948 offiziell verabschiedet, der erste noch nicht. Deshalb schreiben die Dänen immer noch Hven.
  • Mit der Umbenennung der Insel in Venela nahm Venusin seinen italienischen Beinamen vorweg. Die neue Form ist auch von Brauns Atlas beeinflusst. Hier heißt die Riesin Huenella. Durch die Weglassung des stummen Anfangsbuchstabens bringt Venusin vor allem den Inselnamen in Verbindung mit vena (‚Ader‘), einem Wort mit vielen anmutigen Konnotationen. Durch die kleine Ader mitten im Öresund strömte in seinen Augen kein Blut, sondern Gold und Poesie. Venusins antikes Vorbild Horaz hatte als Erster das Wort vena als Metapher für die dichterische Eingebung benutzt: „Die Ader meines Geistes ist treu und großzügig“ (Odes II 18,9f: fides et ingeni be­nigna vena est). Dass Venusin seinen von Horaz übernommenen Beinamen in ähnlicher Weise verstand, wird von einem deutschen Bewunderer bestätigt. 1606 widmete Paulus Rutingius aus Rostock (1574–1619) seinem dänischen Vorbild ein Anagramm in 13 Disticha (Rutin­gius 1606, S. 40). Hier verwandelte der Deutsche den Namen Ionas Iacobus Venusinus in einen Satz: Suavis vena, vincis bonos (‚Süße Ader, Du besiegst die Guten‘) (vgl. Andersen 2007, S. 404).
  • Die beleidigende Umbenennung von Venusinus in Mercurius erfolgte in einem besonderen Kontext. Einige Wochen zuvor war Giordano Bruno in Rom als Ketzer verbrannt worden. Die Hinrichtung fand am 28. Januar 1600 statt, Tycho schickte seine beiden Briefe Ende März nach Dänemark und muss also zu diesem Zeitpunkt vom Tod des italienischen Philosophen gehört haben. Er erwähnt trotzdem mit keinem Wort dieses schreckliche Ereignis. Das Schweigen über die internationale Aktualität steht in starkem Kontrast zu seiner vehementen Empörung über die eher harmlose Bemerkung seines ehemaligen Panegyrikers in Landskrona ein halbes Jahr früher. Bei der Lektüre des Briefs erinnerte Venusin sich an eine andere Beschimpfung, die er in Tychos gedrucktem Briefwechsel gelesen und allem Anschein nach schon früher direkt von den Lippen des Astronomen vernommen hatte.
  • Von 1587 bis 1588 gab Bruno Vorlesungen in Wittenberg und trug am 20. September 1587 seinen Namen und seinen Wahlspruch ins Stammbuch des jütländischen Studenten Hans Poulsen Resen ein (Thott 572 8to, S. 55r). Dieser Däne begleitete als Hofmeister den dreizehnjährigen Aristokraten Frederik Rosenkrantz. Dieser Mann und sein Vetter Knud Gyldenstjerne gelten als Vorbilder für die lächerlichen Hamlet-Figuren Rosencrantz und Guildenstern, weil sie 1592 eine gemeinsame Reise nach England unternahmen (Rosenkrantz 1910). In Wittenberg muss sich Frederik Rosenkrantz als Tychos Verwandter vorgestellt haben. Auf einem berühmten Kupferstich, das der Astronom an Freunde und Bewunderer in ganz Europa schickte, steht er unter einem Gewölbe mit den Wappen der 16 Geschlechter, von denen er abstammte. Links sind die Namen Rosenkrans und Gvldensteren zu lesen.

Kupferstich von Tycho Brahe, Jakob van Gheyn 1586 (Rotterdam, Museum Boijmans)

© Mit freundlicher Genehmigung des Museums

  • Bruno kann sehr wohl diesen Kupferstich gekannt haben. Einige Monate nach der Begegnung mit den beiden Dänen gab der Philosoph das Werk Acrotismus heraus und schickte ein Exemplar nach Ven mit einer eigenhändigen Widmung. Das Buch missfiel dem Empfänger, denn er schrieb folgendes Distichon auf die letzte Seite: Nullanus nullus et nihil, / conveniunt rebus nomina sæpe suis. (‚Der Nullaner ist null und nichts, die Namen entsprechen oft den Dingen‘) (vgl. Pagnoni Sturlese 1985, S. 309–333.) Bruno kam aus Nola bei Neapel und nannte sich deshalb Nolanus. Über diesen Beinamen ironisierte Tycho. Er benutzte zum ersten Mal seine höhnische Variante in einem Brief vom 17. August 1588 an den deutschen Astronomen Christoph Rothmann. Dieser Brief wurde 1596 von Tycho selbst veröffentlicht und dadurch der ganzen Welt zugänglich gemacht (Dreyer 1919, S. 135).
  • Venusin hatte die Kritik an Bruno sicher schon früher gehört, vielleicht bei seinem zweitägigen Besuch auf Ven vom 20. zum 21. Mai 1590. Weniger als ein Jahr früher, am 9. Juni 1589, hatte Tycho seinen Verwandten Frederik Rosenkrantz und dessen Hofmeister auf Uraniborg empfangen. Sie kamen zusammen mit Tychos Assistenten Elias Morsing. Wie beim Besuch der Königin war Vedel schon vorher eingetroffen (Dreyer 1917, S. 73). Beim Abschied zwei Tage später trug der Wirt seinen Namen und seinen weniger bekannten Wahlspruch Medullas non cortices (‚Das Mark, nicht die Schale‘) in Resens Stammbuch ein (Thott 572 8to, S. 50r). Es ist eine Variante seines meist benutzten Wahlspruchs Non haberi, sed esse (‚Nicht scheinen, sondern sein‘), der auf seinem Kupferstich zu sehen ist. In Resens Stammbuch folgen Tychos und Brunos aufeinander und sind nur durch fünf leere Blätter voneinander getrennt. Tycho hat also absichtlich die Nähe des Italieners gewählt.
  • Venusin muss beide Einträge gekannt haben, denn er war als Kopenhagener Pfarrer ein naher Freund von Resen, der seit 1590 als Professor an der Universität arbeitete. Am 3. Juni 1592 widmete Venusin dem Stammbuchbesitzer das noch unedierte Anagramm O salve spes una in ruinis (‚Heil Dir, o letzte Hoffnung in den Trümmern‘) für ‚Iohannes Paulus Risenius‘ (NKS 271 8to, S. 160, erwähnt Kornerup 1928, S. 195). Später taufte er den am 19. Oktober 1596 geborenen Sohn des Professors Hans Hansen Resen und bat in einem anderen unedierten Gedicht um Aufnahme in dessen Familie: „Hans, nenn mich Bruder, und möge er mich Vater nennen!“ (NKS 271 8to, S. 170: Jæne voces fratrem, me, vocet ille patrem, erwähnt Kornerup 1928, S. 301).
  • Eines der beiden Huldigungsgedichte an Tycho enthält eine verschleierte Reaktion auf die Kritik an Bruno. Es wurde unter folgendem überschwänglichen Titel gedruckt: „An diesen Tycho, Nachfolger des Himmelsträgers Atlas in unserem Zeitalter“ (Dreyer 1927, S. 217: Ad eundem Tychonem At­lantis Coeliferi nostro seculo successorem). Ausgangspunkt des Gedichts ist die elfte von Herkules‘ Arbeiten. Hier trägt der antike Held für kurze Zeit den Himmel, während Atlas goldene Äpfel aus dem Garten der Hesperiden, seiner Töchter, holt. Doch Herkules beginnt zu schwanken. Ängstlich fragt Venusin abschließend: Et jam quis collum ruituro subdet Olympo?/ Qui faciet, facias ni, Tycho, nullus erit. (‚Und wer wird jetzt mit seinem Nacken den bald einstürzenden Olymp abstützen? Tust Du es nicht, Tycho, so wird es keiner tun.‘) Mit dieser Interpunktion wurde das Gedicht gedruckt und ist auch so in einer zeitgenössischen handschriftlichen Abschrift überliefert (NKS 271 8to, S. 161). In beiden Fassungen ist das vorletzte Wort kleingeschrieben. Es scheint sich jedoch im übertragenen Sinne auf Bruno zu beziehen: „Tust Du es nicht, Tycho, so wird es die Null tun.“ Mit einer ähnlichen List wurde der Riese Polyphem von Odysseus betrogen. Mit Weglassung des Kommas könnte nullus sogar als Beiname von Tycho gedeutet werden: „Tust Du es nicht, Tycho du Null, so wird es trotzdem einen geben, der es tut.“ Vielleicht sah sich Venusin damals schon als der potentielle Retter der einstürzenden Welt. Zur Interpretation dieses Gedichts, vgl. Andersen 2007, S. 377f und Andersen 2014, S. 90). Tycho muss später erkannt haben, dass er in diesem Huldigungsgedicht, wie übrigens auch in dem anderen, ins Lächerliche gezogen wurde. In einem Exemplar seines Drucks sind die betroffenen Blätter absichtlich herausgeschnitten worden, vermutlich vom Astronomen selbst (vgl. Friberg 1947, S. 22).
  • In Kopenhagen fiel die Nachricht von Brunos Tod nicht nur mit der Ankunft von Tychos Brief zusammen, sondern auch mit einer schwedischen Massenhinrichtung. Am 20. März 1600 wurden fünf königstreue Aristokraten nach einem Scheinprozess in Linköping enthauptet. Hauptrichter war der Graf Erik Brahe. Er war 1598 als Sigismunds Berater nach Schweden zurückgekehrt, um den Aufstand des Herzogs Karls niederzuschlagen. Als der König nach einer entscheidenden Militärniederlage aus seinem Vaterland floh, wandte ihm sein Berater ohne Zögern den Rücken und wechselte zum feindlichen Lager, um seine schwedische Grafschaft behalten zu können. Als Preis für die Gnade des Herzogs musste Erik Brahe seine ehemaligen Verbündeten zum Tode verurteilen. Einer von ihnen war sein Schwager, der Reichskanzler Erik Sparre. Er war mit der Schwester des Grafen verheiratet. In Venusins Augen hatte der Verräter Erik Brahe das ideale Profil, um seinen berühmten Verwandten in Prag zu ermorden.
  • Was in den nächsten Monaten in Kopenhagen passierte, können wir nicht wissen. Tatsache ist, dass Anders Krag nach Laborexperimenten unvermittelt erkrankte und an den Folgen einer Vergiftung starb. Venusin wurde sein Nachfolger als Physikprofessor „mit dem Willen seiner königlichen Majestät“ (de voluntate Regiæ Majestatis). So lautete die offizielle Ernennung (Rørdam 1874–1877, S. 260 = Andersen 2007, S. 45). Es sieht also so aus, als wäre ein Mord mit dem Einverständnis des Königs begangen worden. Venusin kann Christian IV. gegen einen fingierten Mordanschlag gewarnt und als Belohnung dafür die Stelle des in Frage kommenden Attentäters bekommen haben. Die Brüder Krag waren die vertraulichsten Freunde des Astronomen in der Hauptstadt und seine einzigen Stützen an der Universität.
  • Als Physikprofessor erhielt Venusin trotz der Proteste des Rektors eine vornehme Dienstwohnung mit botanischem Garten. Hier empfing er in den folgenden Jahren den Besuch des Königs. Die beiden Männer waren durch Friedrich II. eng miteinander verbunden. Christian IV. war der älteste offizielle Sohn des früheren Königs, Venusin sah sich als der älteste leibliche Sohn desselben. Vielleicht waren sie in Wirklichkeit Halbbrüder.
  • Wenn Tycho wegen einer dänischen Verschwörung ermordet wurde, dann war der König persönlich daran beteiligt, denn sein Onkel, Hans der Jüngere, schrieb im Sommer 1600 einen entscheidenden Brief an Erik Brahe, den er schon früher getroffen hatte, aber ohne einen regelmäßigen Kontakt mit ihm unterhalten zu haben. Vielleicht hatten sie durch Erik Brahes Frau Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg Bekanntschaft gemacht. Sie kam aus Harburg südlich von Hamburg und war Tochter des Herzogs Otto II. Hans der Jüngere wohnte meist auf Glücksburg und Sonderburg in Schleswig, hatte aber auch Besitze in der Nähe von Hamburg und war von seinem Titel her Herzog von Holstein. Er trachtete allerdings nach einem höheren Schicksal und träumte davon, König von Livland zu werden. So hatte sich sein älterer Bruder Magnus einst genannt, als er dort über das kleine Gebiet herrschte, das zur dänischen Krone gehörte. Die Verwirklichung des Traums hing vom Ausfall des Konflikts zwischen Schweden und Polen ab. Seit der Schlacht bei Linköping führten Herzog Karl und sein Neffe Sigismund den Krieg im Baltikum weiter. Dänemark war offiziell neutral, hatte aber ein klares Interesse an einem polnischen Sieg, denn das würde den nordischen Erzfeind schwächen.
  • Am 27. August 1600 empfing Erik Brahe einen Brief von Hans dem Jüngeren, floh kurz danach aus Schweden und sah niemals sein Vaterland wieder. Der Herzog muss ihn nach Danzig gelockt oder eingeladen haben, denn dort trafen sich die beiden Männer am 13. Dezember und reisten dann nach Prag. Hier nahmen sie am 13. Juli 1601 persönliche Verhandlungen mit Kaiser Rudolf II. auf, und die Geheimgespräche dauerten bis zum 1. August. In diesen Wochen traf der schwedische Graf zum ersten Mal seinen berühmten Verwandten Tycho Brahe. Am 19. August verließ der Herzog von Holstein Prag, vermutlich in Richtung Dänemark. Er muss wegen des Kalenderunterschieds vor dem Ende des Monats in Kopenhagen eingetroffen sein. Dort erstattete er offenbar Bericht über den Ausfall der Verhandlungen in Prag, denn am 29. August wurde die Universität für ein ganzes Semester geschlossen, und Venusin verließ die Hauptstadt (Rørdam 1873–1877, S. 139).
  • In Prag empfing Erik Brahe am 27. September einen Zettel vom Kaiser und nahm den Kontakt zum Astronomen wieder auf. Er war Gast bei Tycho am 30. September und empfing ihn selbst am 11. Oktober zum Essen zusammen mit dem kaiserlichen Rat Ehrenfried von Minckwitz. Am folgenden Tag war Erik Brahe allein zum Essen bei einem Mann, der sich als Botschafter des Herzogs von Florenz vorstellte (Andersen 2009, S. 377). Es kann sich um Venusin gehandelt haben. In diesem Fall war der Dichter nach Prag gereist, um die letzte Phase der Verschwörung zu überwachen und dem Mörder persönlich das Gift auszuhändigen. Der Herzog, den Erik Brahes Wirt angeblich vertrat, war Ferdinand I. de‘ Medici. Er wurde in ganz Europa verdächtigt, seinen Bruder vergiftet zu haben.
  • Am 13. Oktober begaben sich Erik Brahe und Ehrenfried von Minckwitz zusammen mit Tycho zu einem Bankett, und hier erkrankte der Astronom am Tisch. In den folgenden Tagen sah Erik Brahe den italienischen Botschafter, dann den Kaiser und besuchte endlich seinen schwerkranken Verwandten. Vom 20. bis zum 27. Oktober wohnte er in Tychos Palast und hielt den Astronomen am 24. Oktober in seinen Armen, als jener ausatmete.
  • Wir können den Verlauf der Ereignisse so genau datieren, weil Erik Brahe von 1592 bis 1607 ein hauptsächlich in Geheimschrift verfasstes Tagebuch führte (Stockholm, Riksarkivet, E 8925 = 1592–1601, E 8917 = 1602–1607, abrufbar gegen Gebühr). Der Graf bezeichnet sich nie als Mörder und beschreibt nie das Ziel seiner Mission in Prag. Es ist jedoch klar, dass seine Flucht aus Schweden mit dem Brief von Hans dem Jüngeren zusammenhing und dass er in den folgenden Monaten um sein Leben bangte. Diese Angst wird nach der Ankunft in der böhmischen Hauptstadt mit schweren Gewissensbissen begleitet. Am 19. Mai 1601 schreibt er zum ersten Mal seit Januar 1594 MEA CULPA (‚meine Schuld‘). Dieses katholische Schuldgeständnis wird bis zum 29. September regelmäßig wiederholt und variiert, immer in Geheimschrift.
  • Erst im Oktober hört die Klage auf. Erik Brahe notiert in diesem Monat nur seine Begegnungen mit dem Hofrat Johann Dücker (01.10), dem Sekretär des Geheimen Rats Johann Anton Barvitius (04.10), dem Vorsitzenden des Geheimen Rats Karl von Liechtenstein (06.10), Ehrenfried von Minckwitz und Tycho (11.10), einem italienischen Botschafter (12.10), einem Malteserritter (15.10), dem Kaiser (16.10) und einer Prostituierten (19.10) und erwähnt seinen Besuch bei Tycho, in dessen Wohnung er eine Woche blieb (20–27.10). Das n steht für nox (‚Übernachtung‘). Drei Tage nach dem Tod des Astronomen verabschiedete sich der Graf von der Witwe und benutzte dabei seine Geheimschrift: DISCESSI A DOMINA Brahe (‚ich verließ Frau Brahe‘). Die einzige persönliche Aussage in diesem Monat betrifft den Tag, an dem Tycho beim Bankett erkrankte. Erik Brahe gesteht am 13. Oktober: „ich war stark bis[her], ich habe es nicht geschafft“ (UIGEBAM AD[huc] NON POTUI). Leider erklärt er nicht, ob ihm die Stärke fehlte, etwa das geplante Verbrechen zu vollstrecken, oder ob er der Sünde und dem angebotenen Geld nicht widerstehen konnte. Schon während der Verhandlungen mit dem Kaiser hatte er in einem Gebet vom 25. Juli seine eigene Schwäche beklagt: „O Sankt Jakob, komm meiner menschlichen Schwäche zu Hilfe!“ (Andersen 2009, S. 363: O BEATE IACOBE SUCCURRE HUMANÆ FRAGILITATI MEÆ).

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© Stockholm, Riksarkivet, Skoklostersamlingen, E 8925, Bl. 144v–145r

  • Tychos Krankheit wird in der noch vor Ende 1601 gedruckten Leichenrede von Jan Jessenius beschrieben. Dieser Arzt wies das Giftgerücht zurück und erwähnte weder Erik Brahe noch Minckwitz (Jessenius 1601, Bl. B4r). Nur dank einer Notiz von Tychos wissenschaftlichem Mitarbeiter Johannes Kepler wissen wir, wer den verstorbenen Astronomen zum Bankett begleitet hatte (Dreyer 1926, S. 283). Die Notiz wurde in Tychos Observationsprotokoll eingetragen und einige Jahre später veröffentlicht (Snellius 1618, S. 83f). Erst 24 Jahre nach dem verdächtigen Todesfall erklärte Kepler, dass Tycho in der Gegenwart seines schwedischen Verwandten den Geist aufgegeben hatte. Er lag „in seinen Armen und sah mich ein“ (Kepler 1625, Bl. 3v: in vlnis aspectante me). Gassendi behauptet, Erik Brahe habe sich seit dem Anfang der Krankheit um Tycho gekümmert und den Auftrag bekommen, die Verwandten von ihm zu grüßen. Diese Aussage ist verdächtig und vermutlich erdichtet. Gassendi beschreibt auch ein Gespräch, bei dem Tycho seinen deutschen Mithelfer darum bittet, seine Hypothesen zu beweisen, obwohl sie an verschiedene Bewegungen glauben. Da Kepler diese wissenschaftliche Aufgabe nicht selbst bestätigt, muss Gassendi sie hinzugedichtet haben (Gassendi 1654, S. 208).
  • Erik Brahes Tagebuch liefert auf jeden Fall ein wichtiges und verlässliches Zeugnis über Tychos letzte Tage, aber vermutlich auch über Venusins Reiseziel während der Schließung der Universität. Vieles spricht dafür, dass der Dichter mit dem italienischen Botschafter und dem Malteserritter identisch ist. In den 16 Jahren, wo Erik Brahe sein Tagebuch führte, trifft er keinen anderen Italiener und schreibt keinen anderen italienischen Satz als die Notiz über den Besuch des Malteserritters (il cauallier de Malta presso de me). Venusins Anwesenheit in Prag wird auch durch das Original von Urania Titani bestätigt. Es ist nur unklar, ob er das Gedicht selbst im Palast des Opfers hinterließ oder ob Erik Brahe dafür sorgte.
  • Als der Unterricht Anfang Januar 1602 an der Universität von Kopenhagen wieder aufgenommen wurde, war der Physikprofessor wieder am Ort. Am 22. Februar gab Niels Krag seinen Lehrstuhl als Geschichtsprofessor auf, um das Amt als Vorsteher der königlichen Schule in Sorø anzutreten. Am 10. April beteiligte er sich zum letzten Mal an einer Sitzung der Universität und verschwand dann unvermittelt am 14. Mai in Sorø. Von einer Beerdigung oder einer Grabschrift schweigen die Quellen (vgl. Vinding 1665, S. 192). Schon am 22. Mai wurde Venusin zu Krags Nachfolger als königlicher Historiograph ernannt. Eine Woche später wurde er dann zum Dekan der Philosophischen Fakultät gewählt und durfte in dieser Eigenschaft die Rede bei der Magisterpromotion halten. Sie fand am 13. Juli statt.
  • Venusin verwandelte diese kodifizierte akademische Tradition zu einer außergewöhnlichen, ja einmaligen Begebenheit. Er lud möglichst viele Gäste ein, darunter auch den König, ließ ein didaktisches Theaterstück aufführen und wählte als Thema für seine Rede den wenig orthodoxen Spruch: „Gott ist Geometriker“. Bis auf zwei kurze Auszüge ist die Rede noch unediert (NKS 271 8to, S. 107–139).
  • Laut Plutarch geht der Spruch auf Plato zurück (Moralia VIII,2). Im Cosmographicum mysterium wird er einmal von Kepler selbst auf Griechisch zitiert (1596, S. 22), und im Anhang zu diesem Text finden wir ihn ein zweites Mal, und zwar in Keplers Neuausgabe der Narratio prima (1596, S. 136). In dieser astronomischen Schrift hatte der Österreicher Rheticus 1540 zum ersten Mal Copernicus‘ Weltsystem beschrieben. Direkt aus Keplers Druck, den er vielleicht auf seiner Reise nach Prag gekauft hatte, entlehnte Venusin seinen Spruch. Andere Ideen aus dem Cosmographicum mysterium fanden ihren Niederschlag in seiner Rede. Vor dem König und den Professoren, die sieben Jahre früher seinen Traktat zensuriert hatten, lobte Venusin „jenen göttlichen und unvergleichbaren Mann Nicolaus Copernicus“ (Rørdam 1868–1874, S. 524: divinus ille et incomparabilis vir Nicolaus Copernicus). Er erklärte auch, wie er 1580 als Wittenberger Student von seinem Mathematikprofessor Valentin Otho zur neuen Astronomie gewonnen wurde. Dieser alte Lehrer war ein Schüler von Rheticus und hatte die Originalhandschrift von De revolutionibus orbium cœlestium von ihm geerbt (Geschichte der Handschrift).
  • Vielleicht zeigte Valentin Otho seinem dänischen Schüler dieses Kleinod. Auf jeden Fall verheimlichte Venusin seine astronomische Überzeugung bis Tychos Tod. Wie Gassendi es poetisch ausmalte, hielt der schonische Astronom bis zu seinem letzten Atemzug an der alten Vorstellung fest, dass die Sonne sich um eine unbewegliche Erde dreht. In seiner revolutionären Rede stellte sich Venusin als Träger der Erbschaft von Copernicus, Rheticus und Otho dar und machte sich gleichzeitig lustig über einen leichtgläubigen „Freund“ (amicus), der seinerzeit die Anhänger der neuen Astronomie verhöhnt hatte (Rørdam 1868–1874, S. 523). Venusins Zuhörer konnten leicht diesen anonymen Vertreter der astronomischen Orthodoxie erkennen, denn Tycho hatte 28 Jahre früher am selben Ort eine andere Rede über Mathematik und Astronomie gehalten. Sie trug den Titel De disciplinis mathematicis oratio und wurde erst posthum veröffentlicht (Aslacus 1610 = Dreyer 1913, S. 143–173), aber Venusin kannte sie und hatte sie vielleicht selbst gehört. In der Rede vom 13. Juli 1602 wurde Copernicus zum ersten Mal öffentlich von einem Skandinavier verteidigt.
  • Als Historiograph übernahm Venusin wenige Wochen später die historischen Sammlungen seines Vorgängers Niels Krag und entdeckte zunächst Umbra Saxonis mit dem gotischen Gedicht über die Lombarden und kam dann in den Besitz der Didrikskrönikan. Die Hvenische Chronik legt das letzte Zeugnis von seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Tycho ab. In den folgenden Jahren wandte sich Venusin der dänischen Geschichte zu und befasste sich in einigen Thesensammlungen mit dieser Frage. Im Sommer 1606 reiste er mit dem König nach London und erlitt nach seiner Rückkehr eine entscheidende Niederlage im Exorzismusstreit gegen seinen Kollegen, den orthodoxen Theologieprofessor Hans Poulsen Resen. Am 1. Mai 1607 wurde er zum Vorsteher der Schule in Sorø ernannt und verschwand dort am 29. Januar 1608 unter genauso unerklärten Umständen wie sechs Jahre früher sein Vorgänger Niels Krag. Sein Freund und Mäzen Sivert Grubbe begnügt sich in seinem Tagebuch mit dem Wort obiit (‚er starb‘) (Uldall 449 4to, S. 163). In der ersten gedruckten Kurzbiographie finden wir denselben vagen Ausdruck (Vinding 1665, S. 201).
  • Hans Poulsen Resens Enkelsohn, der Historiker Peder Hansen Resen, berichtet mehr als ein halbes Jahrhundert später, Venusin sei in einem Brunnen ertrunken. Er vermutet entweder Selbstmord oder die unausweichliche Folge eines Bündnisses mit dem Teufel. In seiner Jugend soll Venusin einen verteufelten Ring gekauft haben, der ihm zu hohen Ämtern und Erfolg verhalf, aber er konnte nachher diesen Ring nicht mehr loswerden (Dänische Bibliothec 1737, S. 27). In dieser Fabel ist die Faustsage mit der isländischen Variante der Nibelungensage verschmolzen und außerdem von einem konkreten Selbstmord beeinflusst. 1585 war Professor Klaus Hammer aus Landskrona in einem schonischen Brunnen gefunden worden, nachdem ihm seine Kollegen eine Beförderung an der Universität verweigert hatten. Er nannte sich Coronensis wie Venusin in seiner Jugend. Vielleicht wiederholte sich die Geschichte 1608, vielleicht nicht. Das Motiv des verfluchten Rings kann erst im Zusammenhang mit der Erstausgabe der Prosa-Edda hinzugekommen sein. Sie wurde 1665 von Peder Hansen Resen, dem einzigen Gewährsmann der Fabel, besorgt (vgl. Andersen 2009, S. 167f). Der Historiker hatte einen Großvater und einen Vater, die beide Venusin gekannt hatten. Hans Poulsen Resen war seit 1592 mit ihm befreundet und reiste 1606 zusammen mit ihm nach London. Hans Hansen Resen wurde 1596 von Venusin getauft und muss ihn bis 1607 in seinem Elternhaus getroffen haben. Vater und Sohn waren beide orthodoxe Lutheraner und müssen Venusin als eine dänische Verkörperung des berühmten deutschen Teufelsbündlers betrachtet haben. Sie folgten sich auf dem Bischofsstuhl von Seeland und sorgten durch religiöse Verfolgung und intensivierte Hexenverbrennungen für die Säuberung des Glaubens. Eines ihrer vielen Opfer war, wie bemerkt, Niels Mikkelsen Ålborg.
  • Durch die Ringfabel trat Venusin in die dänische Geschichte als ein lokaler Faust. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts sprach der künftige Landesvater Nicolai Frederik Severin Grundtvig mit Verachtung von „Jens von Ven, der nichts machte und nichts tat“ (1818, S. 198: Jens Hveenboe […] der Intet troede og Intet gjorde). Der harte Kritiker prangerte Venusins Faulheit als Historiker an und nahm Anstoß an seinem Skeptizismus. Heute kann diese Kritik in Lob umgekehrt werden.
  • Mehr als ein Jahrhundert lang hat Dänemark Venusin keine nennenswerte Aufmerksamkeit geschenkt. Kein lokaler Forscher hat die Hvenische Chronik in den letzten 50 Jahren erwähnt, zumindest nicht im Druck. Neulich ist Venusin trotzdem wieder ins Rampenlicht gekommen. Er ist nämlich als Vorbild für Hamlets Freund und Ratgeber Horatio betrachtet worden (Keller 2007, S. 10f). Beide sind Studenten aus Wittenberg und dienen als Ratgeber für einen jungen Kronprinzen. Außerdem sind sie im übertragenen Sinne Namensbrüder, denn sowohl Venusinus als auch Horatio beziehen sich letztendlich auf Horaz aus Venusia. Früher wurde Horatio als zufällige Entlehnung aus Thomas Kyd’s Spanish Tragedy betrachtet, aber der Horatio dieser Rachetragödie hat nichts mit Shakespeare’s Gestalt gemeinsam, geschweige denn mit seinem italienischen Namensbruder.
  • Es hat sich neulich herausgestellt, dass Hamlets Freund in einer seiner ersten Repliken eine berühmte Ode des Horaz wörtlich zitiert. In der ersten Szene kann Claudius‘ Wächter Bernardo wegen der Dunkelheit den herannahenden Horatio noch nicht sehen und fragt deshalb, ob er tatsächlich da sei. Da bekommt er folgende auf den ersten Blick unverständliche Antwort: A piece of him (Hamlet I 1,18). Diese Bemerkung ist als verstecktes Zitat entschlüsselt worden (Jost 2012). In einer vielzitierten Passage erklärt Horaz, sein Werk werde die Pyramiden überdauern und dabei „ein Stück von ihm“ (pars mei) aufheben (Odes III 30,6). Diese Aussage nimmt Horatio’s letzte Replik vorweg. In der Schlussszene akzeptiert Hamlets Ratgeber nur deshalb zu leben, weil er sich verpflichtet fühlt, „der noch unwissenden Welt“ die Wahrheit zu erzählen (Hamlet V 2,363: And let me speak to th‘ yet unknowing world). Das ‚Stück‘ von Horatio ist also ein ‚Stück‘ von Horaz, aber auch ein ‚Stück‘ von Shakespeare. Der englische Dramatiker macht diese dänisch-italienische Gestalt zu seinem Sprachrohr.
  • Wenn der Autor von Hamlet, mag er Shakespeare oder etwas anderes geheißen haben, irgendeinen dänischen Gewährsmann hatte, dann kommt nur Venusin in Frage. Wie die Hvenische Chronik und Urania Titani kann auch das englische Drama als verschlüsselte Darstellung der dänischen Gegenwart gesehen werden. In diesem Fall verkörpern der Usurpator Claudius, der Prinz Hamlet und die untreue Königin Gertrude das historische Trio Tycho, Christian IV. und Sophie von Mecklenburg. Der alte König, der von Claudius ermordet worden ist, symbolisiert dann Friedrich II. In ganz ähnlicher Weise wird Sigfrid Horn stellvertretend für den dänischen König von Hogen alias Tycho ermordet. Endlich muss der eigentliche Schauplatz des englischen Dramas von Kronborg nach Uraniborg verlegt werden. Diese Interpretation, die sich durch zahlreiche raffinierte Anspielungen unterstützen lässt (vgl. Andersen 2009, S. 135–224), macht die Hvenische Chronik zu einer symbolischen Fortsetzung des weltberühmten englischen Dramas.
  • 2008 regte der dänische Schriftsteller Ib Lucas Aufsehen mit dem Kriminalroman Manden på tapetet (‚Der Mann auf dem Teppich‘). Der Titel verweist auf einen berühmten Teppich, der vier Personen darstellt: Friedrich II., Christian IV., Tycho und einen unbekannten Mann, der mit dem Astronomen spricht und dem Betrachter den Rücken kehrt. Der Teppich wurde um 1586 hergestellt, also zur Zeit des Besuchs der Königin auf Ven. Im Hintergrund sind die Königsschlösser Frederiksborg und Kronborg zu sehen, und der Blickwinkel zeigt, dass der zentrale König sich auf einer Terrasse von Uraniborg hat darstellen lassen. Der Teppich wurde auf Kronborg aufgehängt und befindet sich heute auf dem Nationalmuseum in Kopenhagen (Abbildung). Im Roman entdeckt die Hauptperson durch Archivalien, dass der unbekannte Mann kein anderer als Wiliam Shakespeare ist und dass der englische Dramatiker in Leipzig empfangen wurde, wo seine Mutter eine kurze Beziehung mit dem sechzehnjährigen Studenten Tyge Brahe hatte. Unterstützt wird diese erstaunliche Vaterschaftshypothese durch die Deutung der Frage To Be or Not To Be (Hamlet III 1,56) als verschlüsseltem Hinweis auf die ersten und letzten Buchstaben in der lateinischen Namensform des Astronomen, also als Kürzel für T[ych]o B[rah]e. Durch sein Sprachrohr Hamlet fragt sich der Dichter, ob er wirklich Tychos Sohn ist.
  • Obwohl es sich um einen Fiktionstext handelt, lohnt es sich, diese Spur zu verfolgen. Wie bemerkt, kann Hamlet nach einer anderen Interpretation den Kronprinzen Christian verkörpern. Dann ist die Frage anders auszulegen: „Ist Tycho mein Vater oder nicht?“ Eine astronomische Deutung kommt auch in Betracht: „Ist Tychos Weltsystem das Richtige oder nicht?“ Durch seine Teilnahme an der Magisterpromotion wenige Monate nach Tychos Tod und der Uraufführung des englischen Dramas entschied sich Christian IV. für Copernicus. Die berühmte Frage kann endlich als eine fast wörtliche englische Übersetzung von Tychos Wahlspruch Non haberi, sed esse verstanden werden. Vielleicht enthält der Erfolgsroman also trotzdem ein Stück Wahrheit, obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Der Schein trügt ja oft, besonders wenn man den Himmel betrachtet. Der unbekannte Mann auf dem berühmten Teppich muss eher in der unmittelbaren Umgebung des Königs als in England gesucht werden. Es ist deshalb vorstellbar, dass Friedrich II. um 1586 seinen Untertanen zeigen wollte, dass sein erstgeborener Sohn imstande war, dem frechen Astronomen den Weg zu versperren. Damals war Venusin vor kurzem vom Ausland zurückgekehrt und hatte große Ambitionen, mit oder ohne Ring.