Thidrekssaga

Die Thidrekssaga (TS) ist eine umfangreiche altnordische Prosaerzählung, die von Thidrek von Bern handelt. Für die Titelfigur haben unmittelbar der deutsche Held Dietrich von Bern und in letzter Instanz der historische Ostgotenkönig Theoderich der Große (†526) Pate gestanden haben. Die Behandlung der Nibelungensage durch den Sagamann steht dem Nibelungenlied näher als jede andere Variante. Das Epos und die Saga stimmen in allen Hauptzügen gegen die durch die Prosa-Edda, die Lieder-Edda und die Völsungasaga vertretene isländische Redaktion überein.

Münze mit dem Bildnis Theoderichs des Großen (um 500)

Kurzbeschreibung

  • Beziehung zur Nibelungensage: Bearbeitung der gesamten Handlung des Nibelungenlieds und der Klage in fünf getrennten Erzählsequenzen
  • Überlieferung: 3 Haupthandschriften (Mb, A, B) + ca. 30 Sekundärhandschriften → Beschreibung: Unger 1853 (Mb, A, B); Kålund 1888 (A, B); Bertelsen 1911 (Mb, A, B); Handrit.is (5 Sekundärhandschriften); Handrit.is (A, 2 Sekundärhandschriften)
  • Online-Überliefering: Mb (Abbildung) (2 Seiten)
  • Titel: Þidreks sagha a[f] Bernn (Mb  1v, Nachtrag aus dem frühen 14. Jahrhundert), Wilkina Saga (Peringskiold 1715), Saga Điðriks konungs af Bern (Unger 1854), Thidrekssaga (Holthausen 1884)
  • Verfasser: anonym, vermutlich ein Norweger
  • Sprache: Altnordisch
  • Länge: 438 Kapitel (Unger), 444 Kapitel (Bertelsen), ca. 150.000 Wörter, davon ca. 20.000 über die Nibelungensage
  • Form: ausschließlich Prosa (bis auf eine Strophe im nachgetragenen Prolog)
  • Entstehungszeit: 2. Hälfte des 13. Jh.
  • Entstehungsort: vermutlich Bergen
  • Erstausgabe: Peringskiold 1715
  • Online-Ausgaben: Unger 1854, Bertelsen 1905–1911, Jónsson 1951 (= 21954, 31961–1962, 41984 = Unger 1854) (Transkription)
  • Online-Übersetzungen: von der Hagen 1814 (dt., nur Nibelungensage), Rafn 1830 (dän.), Erichsen 1924 (dt., Gesamtübersetzung nach Unger 1854), Nilsson/Ólafsson 2012–2013 (norw., nach Unger 1854)
  • Hauptquelle: Nibelungenlied (Kap. 166, 226–230, 342–348, 356–394 = Erichsen 1924,  S. 219f, 266–269, 371–377, 383–414); Klage (Kap. 423–428 = Erichsen 1924, S. 443–446)
  • Nebenquellen: Sigenot (Kap. 16–20 = Erichsen 1924, S. 87–93); Alpharts Tod (Kap. 19f = Erichsen 1924, S. 89–93); König Rother (Kap. 27 = Erichsen 1924, S. 98; Kap. 37 = Erichsen 1924, S. 105); Eckenlied (Kap. 96–103 = Erichsen 1924, S. 160–167); Virginal (Kap. 105–107 = Erichsen 1924, S. 168–171); Biterolf und Dietleib (Kap. 111–129 = Erichsen 1924, S. 172–192); Prosa-Edda (Kap. 152–169 = Erichsen 1924, S. 210–222); Rosengarten (Kap. 171–225 = Erichsen 1924, S. 236–265); Tristrams saga (Kap. 231ff = Erichsen 1924, S. 270ff, vgl. Tristram und Isold); Biterolf und Dietleib (Kap. 236–239 = Erichsen 1924, S. 274–279); Waltharius (Kap. 241–244 = Erichsen 1924, S. 281–347); Dietrichs Flucht (Kap. 276–315 = Erichsen 1924, S. 312–347); Rabenschlacht (Kap. 317–341 = Erichsen 1924, S. 348–370); Hildebrandslied (Kap. 407f = Erichsen 1924, S. 427–429); Ortnit (Kap. 417f = Erichsen 1924, S. 436–438); Wolfdietrich (Kap. 419 = Erichsen 1924, S. 438f)
  • Rezeption: Völsungasaga, Didrikskrönikan, Sigurdlied
  • Beschreibung: Wikipedia

Überlieferung und Edition

  • Die Überlieferung der Thidrekssaga ist außerordentlich reich an sekundären Abschriften aus jüngerer Zeit, doch nur drei Handschriften kommt als Primärquellen für die Textrekonstruktion in Frage, eine hauptsächlich norwegische Pergamenthandschrift (Mb) und zwei jüngere isländische Abschriften (A, B) heute verlorener Vorlagen. Die durch zwei Abschriften bekannte Didrikskrönikan beruht unmittelbar auf Mb und hat jedoch einen textgenealogischen Wert, weil die Membran zur Zeit der schwedischen Bearbeitung noch vollständig war. Die Didrikskrönikan ist also von Bedeutung für die Rekonstruktion der Textlücken von Mb.
  • Die erhaltene Pergamenthandschrift befindet sich heute in der Kungliga Biblioteket in Stockholm (Stock. perg. fol. 4). In der Forschung wird sie als die Stockholmer Membran bezeichnet, daher die Sigle. Sie enthält nur noch 131 der ursprünglich 162 Blätter, die sich in 19 Lagen verteilten. Jede Lage bestand aus 8 Blättern, aber die 8. Lage wurde nachträglich um 10 Blätter erweitert. Die Textverluste betreffen die Blätter folgender Lagen: 12–8, 22, 27, 73, 76, 111, 118, 132, 137, 171, 178, 181, 188, 192–7. Das letzte Blatt ist leer. Vorne ist ein fast leeres Blatt, das nur einen nachgetragenen Titel trägt (1v).
  • Der Text wurde von fünf verschiedenen Händen abgeschrieben. Die beiden ersten (Mb1, Mb2) waren Norweger, die beiden letzten Isländer (Mb4, Mb5), die Herkunft der dritten (Mb3) ist umstritten. Mb2 hat nachträglich Titel für Mb1 hinzugefügt, Mb3 dasselbe für Mb4 und Mb5 getan. Deshalb gelten diese beiden Schreiber als Abschriftleiter oder Redaktoren. Die erste Redaktion endet in Kapitel 196 (Ungers Zählung). Der zweite Redaktor begnügte sich allerdings nicht damit, die Arbeit an dieser Stelle linear zu vollenden. Er schob mitten im Text seines Vorgängers zehn Blätter ein, die von Sigurds Jugend berichten (Kap. 162–169). Danach strich er den letzten, schon ausgeschriebenen Abschnitt und veränderte ihn. Auf diese Weise liegen dieser Abschnitt in zwei Redaktionen vor (Kap. 170–171). Das ist auch der Fall für die sog. Wilkinasaga (Kap. 21–53).
  • Die Pergamenthandschrift befand sich allem Anschein nach zu Beginn des 14. Jahrhundert in Bergen, denn das zwischen 1308 und 1314 angefertigte Handschriftenverzeichnis des dortigen Bischofs Arne Sigurdsson erwähnt eine saga Þiðræk a bern, Sie wird gewöhnlich mit der erhaltenen Handschrift identifiziert. Obwohl Isländer an der Herstellung des Texts beteiligt waren, wird vermutet, dass Mb in Bergen, der damaligen norwegischen Hauptstadt, entstand. Das kann wegen der vielen herangezogenen Quellen nicht vor der Mitte des 13. Jahrhunderts geschehen sein. 1449 wurde der schwedische König Karl Knutsson in Trondheim zum norwegischen König gekrönt und brachte wahrscheinlich bei dieser Gelegenheit die Pergamenthandschrift nach Stockholm.
  • Die beiden isländischen Handschriften sind Abschriften aus den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts. Sie wurden 1704 (B) bzw. 1715 (A) dem isländischen Professor Árni Magnússon geschenkt, die erste während seines Aufenthalts auf Island (1702–1713), die andere nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen. Sie gehören heute der Arnamagnäanischen Sammlung und befinden sich noch in der dänischen Hauptstadt. Es sind vollständige Papierhandschriften mit 109 (A), bzw. 194 Blättern, die wie Mb nur die Thidrekssaga enthalten. Auf einem aufgeklebten Zettel (A) und in einer anderen Handschrift (AM 435a,4°, Bl. 142r–143r) erklärt Magnússon, dass die Texte nach Vorlagen aus den Ostfjorden (A) bzw. Bræðratunga (B) abgeschrieben wurden. Deshalb nannte er diese Handschriften Austfjarðabókin und Bræðratungabókin. Sie gingen vermutlich beim Kopenhagener Brand von 1728 zugrunde. A und B sind eng miteinander verwandt und vertreten die isländische Redaktion der Saga. Sie zeichnet sich zum Beispiel durch die Hinzufügung eines Prologs aus. Früher wurde allgemein angenommen, dass die durch A und B vertretene isländische Redaktion und die erhaltene Stockholmer Membran auf eine verlorene gemeinsame Vorlage zurückgingen, entweder auf das Original oder nur auf einen originalnahen Archetypus. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die isländische Redaktion höchstwahrscheinlich auf die jüngere Redaktion der Membran beruht, für welche die Hand Mb3 verantwortlich war. In stemmatischer Hinsicht steht Mb also am Ursprung der Gesamtüberlieferung und ist deshalb vielleicht in Wirklichkeit als ein nicht ganz fertiges Original zu sehen. Zur stemmatischen Position der drei Haupthandschriften und der Didrikskrönikan, vgl. Bengt Henning: Didrikskrönikan. Handskriftsrelationer, översättningsteknik och stildrag, Stockholm 1970 (= Acta Universitatis Stockholmiensis, New Series, 8), besonders S. 289.
  • In seiner kritischen Ausgabe von 1905 benutzte der norwegische Philologe Carl Richard Unger Mb als Leithandschrift und ergänzte die Lücken durch A, B und gelegentlich auch die Didrikskrönikan. Er überging die wiederholten Abschnitte und gliederte seinen Editionstext in 438 Kapitel. In einer orientierenden Einleitung präsentierte er den Inhalt der Saga unter 30 Untertiteln. Seine Ausgabe hat als Grundlage für alle jüngeren Übersetzungen gedient (Finesen 1924, Haymes 1988, Lecouteux 2001, Andersen 2002).
  • Eine verlässlichere zweibändige Ausgabe wurde zwischen 1905 und 1911 vom dänischen Philologen Henrik Bertelsen besorgt. Er gab den ganzen Text von Mb unverändert wieder und ergänzte die Lücken durch A und B. Die Kapitel 21–53, 170 und 170f werden in seiner Ausgabe nach Kap. 240, 151 bzw. 188 wiederholt (Ungers Zählung). Bertelsen kam auf 444 Kapitel für die Thidrekssaga selbst und fügte zum Vergleich das abweichende Ende der Didrikskrönikan hinzu (Kap. 445–447). Da der Schluss in Mb fehlt, ist unklar, ob die isländische oder die schwedische Redaktion den Vorrang hat. Der Unterschied zwischen Ungers und Bertelsens Zählung in der Mitte der Saga 108 Kapitel (vgl. Bertelsen 1905, S. 360) und sinkt wieder drastisch im zweiten Teil.
  • Aus praktischen Gründen wird Ungers Kapitelzählung bei den Hinweisen dieses Portals bevorzugt. Es ist zu beobachten, dass Fine Erichsen sich zwar in ihrer Übersetzung Ungers Gliederung orientierte, aber jede Erzählsequenz mit neuer Kapitelzählung begann. Die Tafel unten veranschaulicht die Kapitelkorrespondenz in den Originalausgaben der Thidrekssaga und der Didrikskrönikan.

Unger

Unger

Bertelsen

Hyltén-Cavallius

I

1–13

1–24

1–10

II

14–20

25–33

11–16

III

21–38

25–54

17–33

IV

39–56

55–83

33–54

V

57–79

84–136

55–75

VI

80–95

137–170

76–95

VII

96–107

171–194

96–111

VIII

108–131

195–233

112–131

IX

132–151

234–261

131–147

X

152–168

262–273

148–160

XI

169–188

274–294

161–178

XII

189–224

295–318

177–208

XIII

225–230

319

209–212

XIV

231–240

320–323

213–222

XV

241–244

336

222–225

XVI

245–275

337–342

226–229

XVII

276–290

342–346

230–245

XVIII

291–315

347–365

246–267

XIX

316–341

366–386

267–290

X

342–348

387–391

291–296

XXI

349–355

392–395

297–301

XXII

356–370

396–398

302–310

XXIII

371–394

399–413

316–339

XXIV

395–402

414–417

340–346

XXV

403–411

418–420

347–354

XXVI

412–415

420–421

355–357

XXVII

416–422

422–426

358–364

XXVIII

423–428

427–429

365–369

XXIX

429–437

430–444

370–381

XXX

438

444

382

Zusammenfassung

  • Ausführliche Inhaltsangabe des Prologs und der 30 Erzählsequenzen: Wikipedia

Die Quellenfrage

  • Die einzige Quellenangabe der Saga ist nach Gunnars, Grimhilds und Högnis Tod zu finden. Hier verweist der Autor auf mündliche deutsche Berichte von Männern aus Soest, Bremen und Münster. Die Gewährsmänner aus Soest hatten nach dem Sagamann die Schauplätze der Handlung persönlich gesehen. Ihrem Bericht zufolge waren zwei Orte in ihrer Heimat sogar nach den Ereignissen der „Garten der Niflungen“ und „Högnis Tor“ benannt. Was diese Leute erzählten, stimmt nach dem Sagamann mit dem Inhalt „alter Lieder in deutscher Zunge“ (fornkvæði i Þydærskri tungu) überein, die von „großen [d. h. gelehrten] Männern“ (storir menn) „gedichtet“ (gort) worden seien (TS 394).

Osthofentor in Soest

  • Der Sagamann verglich mit anderen Worten die mündlichen Berichte aus Norddeutschland mit anderen Quellen. Diese erwähnten Lieder sind ihm anscheinend nicht von den norddeutschen Gewährsleuten vorgesungen worden und müssen ihm deshalb eher in schriftlicher Form vorgelegen haben. Im Prolog, der als isländischer Zusatz zu betrachten ist, finden wir weitere Hinweise auf deutsche Quellen, die mit einer nordischen Fassung in Versen über Sigurd und die Völsungen verglichen wird. Gemeint ist ganz offensichtlich die Lieder-Edda.
  • Die Aussage des Sagamanns spricht dafür, dass die Bevölkerung in Soest, aus welchen Gründen auch immer, die Nibelungensage im Laufe des 13. Jahrhunderts auf die eigene Stadt bezogen hatte. Die Thidrekssaga ist der einzige Beleg für die Existenz einer solchen Lokalsage. Wenn die Gewährsmänner dem Sagamann die Wahrheit erzählt hatten, war die Lage in Soest zu diesem Zeitpunkt anscheinend vergleichbar mit derjenigen in Worms 200 Jahre später. Es handelte sich wohl einfach um bestimmte Orte, die einen Namen mit Bezug auf die Nibelungensage trugen. In Soest handelte es sich um eine Mauer und ein Tor, in Worms um ein Grab und eine Lanze. In keinem der beiden Fälle scheint eine längere zusammenhängende Erzählung vorgelegen zu haben. Die Saga enthält so viele genaue Übereinstimmungen mit dem Nibelungenlied, dass der Autor seine Kenntnis der Sage nur aus einer schriftlichen Vorlage geschöpft haben kann.

Stadtmauer in Soest

  • Eine Handschrift des hochdeutschen Epos ist indirekt um 1208 in Dänemark durch Saxo und um 1220 in Bergen durch Snorri belegt. Deshalb kann es nicht verwundern, dass das Nibelungenlied einige Jahrzehnte später in Norwegen zu lesen war. Diese erschlossene Handschrift muss die Klage enthalten haben, denn die Erzählung von Attilas Tod dürfte in Anlehnung an den Schluss dieses Epilogs entstanden sein. Der Autor der Klage gesteht dort seine Unwissenheit in Bezug auf Etzels Tod und fragt sich, wie der König starb. Einige seien der Meinung, er wurde erschlagen, andere nicht. Vielleicht sei er in den Himmel gekommen oder „lebendig begraben“ worden (lebende würde begraben) (K 4337) oder noch „in Felsenlöcher geschlüpft“ (sich verslüffe in löcher der steinwende)  (K 4340f). In diesem Abschnitt zeigt der Sagamann, wieviel Phantasie er hat. Er bearbeitete seine Vorlagen also oft sehr frei.
  • In den vielen Fällen, wo ein Vergleich mit einem deutschen Paralleltext möglich ist, enthält die Saga Eigentümlichkeiten. Die Prosabearbeitung der Nibelungensage gehört zu den Abschnitten, in denen der Sagamann sich offenbar am wenigsten von seiner Vorlage entfernt. Seiner Hauptquelle blieb er verhältnismäßig treu. Die Drachenepisode ist jedoch von der isländischen Variante kontaminiert. Sigurd verbrennt sich die Finger und versteht die Vogelsprache (TS 166). Genau zwei Meisen warnen ihn vor seinem Ziehvater wie in der Prosa-Edda. In der Lieder-Edda (Ffm 32–38) sind es sieben Meisen. Der Autor der Völsungasaga, die beide Zahlen kennt, entscheidet sich mit sechs Meisen für einen Kompromiss. Aus Snorris Fassung hat die Thidrekssaga auch Namen wie Brynhild, Gram, Gran, Grimhild, Gunnar, Guthorm, Högni, Regin und natürlich Sigurd entlehnt. Behalten wird das Bad im Drachenblut, aber die Funktion fällt weg, denn es gibt kein Lindenblatt mehr. Außerdem hat der Sagamann das Hortmotiv unterdrückt. Es taucht erst im Nachtrag über Attilas Tod auf. Die Rache, die den Hunnenkönig wegen seiner Goldgier trifft, ist in erneuter Rückgriff auf Snorri entstanden.
  • Die Zahl der Nebenquellen lässt sich nicht genau bestimmen. Mindestens 13 deutschsprachige Werke haben die Saga in unterschiedlicher Weise beeinflusst. Hinzu kommt der lateinische Waltharius, der im Verhältnis zu den deutschen Quellen ziemlich treu bearbeitet worden ist. Vielleicht verstand der Norweger besser Latein als Deutsch. Ein Name wie Attila zeigt, dass er den Etzel des Nibelungenlieds und den Atli der Prosa-Edda mit dem historischen Hunnenkönig identifiziert hatte. Der Name stammt aus dem Waltharius oder einer lateinischen Chronik. Es ist beeindruckend, dass der Sagamann offensichtlich die gesamte Dietrich-Epik kennt. Es ist eine hervorragende Leitung, die riesige Stoffmenge um die Titelfigur herum fast widerspruchslos vereinbart zu haben.

Die Behandlung der Brünhild-Figur

  • In der Saga fällt auf, dass Gunnars Frau weder athletische Königin noch schlafende Walküre ist, sondern eine Burgherrin, die in Schwaben Pferde züchtet (TS 18). Snorri hatte seine Landsmännin zu einer Göttin erhoben, der Sagamann erniedrigt sie in jeder Hinsicht und verwandelt die implizite Liebesgeschichte des Nibelungenlieds und die explizite Romanze der Prosa-Edda in eine absolut gefühllose Beziehung. Nach dem Drachenkampf macht Sigurd das Burgtor mit einem gewaltsamen Fußtritt auf, verlangt ein Pferd und wird trotz seines unhöfischen Benehmens gut empfangen. Er verbringt sogar die Nacht bei Brynhild, aber offenbar ohne sie zu berühren. Ohne sich im Geringsten für sie zu interessieren, nimmt er am folgenden Tag Abschied und reitet unbeirrt fort (TS 168). Nach der Hochzeit mit Grimhild, die keineswegs als Verrat empfunden werden kann und ohne Vergessenstrank erfolgt, empfiehlt Sigurd die Schwäbin seinem Schwager Gunnar. In der Saga bekommt Sigurd nicht seine Ehefrau durch einen Tauschhandel und hat nach seinem Eintritt in den Ehestand kein Interesse für die Pferdehändlerin.
  • Gemäß der Quelle hat Gunnar körperliche Schwierigkeiten mit seiner Frau, sogar drei Nächte nacheinander. Sigurd kriegt die widerspenstige Schwäbin klein, indem er sie vergewaltigt. Es ist möglich, dass die sonderbare Verwandlung der Walküre in gezähmte Hausfrau mit dem zeitgenössischen Kontext zusammenhängt. Der Autor der Thidrekssaga, anscheinend ein Norweger, konzipierte diese Gestalt nach zwei widersprüchlichen Quellen. Er muss erkannt haben, dass Snorri vor Nationalstolz die hinterlistige Isländerin des Epos in eine betrogene Walküre verwandelt hatte. Zur Zeit der Thidrekssaga hatte Island seine Unabhängigkeit verloren. Snorri war 1241 auf den Befehl des norwegischen Königs ermordet worden, seine Republik 1262 unter norwegische Hoheit geraten. Dieser Anschluss, der ohne Kriegshandlungen durchgezwungen wurde, kam in symbolischer Hinsicht einer Vergewaltigung gleich. Vielleicht wollte der norwegische Sagamann durch seine Behandlung der Nibelungensage seinen isländischen Vorgänger demütigen, wie Sigurd es mit Brynhild tut. Deshalb entschied er sich größtenteils an seine deutsche Vorlage zu halten und wählte die isländische Ketzerei ab. Zu dieser politischen Hypothese, vgl. Peter Andersen: Mourir dedans ou dehors, voilà la question. Quelques réflexions sur la légende des Nibelungen, in: Études Médievales 9–10 (2008), S. 30–41.