Prosa-Edda

Die Prosa-Edda des einflussreichen isländischen Politikers Snorri Sturluson enthält eine längere Erklärung für eine Goldumschreibung. Hier wird eine Erzählung eingefügt, die mit der Handlung des Nibelungenlieds verwandt ist, aber viele selbständige Züge aufweist. Diese Züge finden sich in der Lieder-Edda und der Völsungasaga wieder, einige auch in der Thidrekssaga.

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Ólafur Brynjúlfsson (Reykjavík, Landsbókasafn Íslands, ÍB 299 4to, Bl. 58r; um 1760)

Kurzbeschreibung

Überlieferung

Die Prosa-Edda besteht aus einem Prolog und drei Büchern: I Gylfaginning (‘Gylfis Täuschung’), II Skáldskaparmál (‘Sprache der Dichtkunst’), III Háttatal (Verzeichnis der Versarten’). Die Nibelungensage ist ein zusammenhängender Abschnitt im zweiten Teil. Hier entspricht sie in den maßgeblichen Ausgaben von Sigurđsson und Faulkes den Kapiteln 39 bis 42. Die Prosa-Edda ist in vier Haupthandschriften, drei Fragmenten und zahlreichen sekundären jüngeren Abschriften erhalten. Von den sieben Primärhandschriften enthalten nur fünf die Nibelungensage.

  • C: Kopenhagen, Det Arnamagnæanske Institut, AM 748 II 4°. Dieses Fragment besteht 13 paginierten Pergamentblättern. Die Handschrift entstand um 1400. Das Fragment enthält einen Teil des Skáldskaparmál und beginnt mitten in der Nibelungensage (II 42). Die frühe Geschichte des Fragments ist unbekannt. Es wurde 1691 von Árni Magnússon erworben und gehört seither zur Armamagnäanischen Sammlung in Kopenhagen.
  • R: Reykjavík, Stofnun Árna Magnússonar, GKS 2367 4°. Diese Handschrift besteht aus 55 paginierten Pergamentblättern. Das erste Blatt fehlt. Die Handschrift entstand um 1325 und enthält alle drei Teile der Prosa-Edda (Bl. 1r–53r), auf den beiden letzten Blättern zwei andere Stücke. Laut einem Eintrag auf Seite 55 (Bl. 28r) kaufte Bischof Brynjólfur Sveinsson die Handschrift 1640 in seinem Bistumssitz Skálholt von einem gewissen Magnus Gunnlaugsson. 1662 schickte er die Membran als Geschenk an König Friedrich III. nach Kopenhagen, daher die gängige Bezeichnung als Codex Regius. Nicht zu verwechseln ist die Handschrift der Prosa-Edda mit der unikalen Aufzeichnung der Lieder-Edda, die ebenfalls unter diesem Namen bekannt ist. Von 1682 bis 1704 wurde die Handschrift der Prosa-Edda an den in Norwegen wohnhaften Historiker Þormóður Torfason ausgeliehen. Im Katalog der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen ist sie 1786 zum ersten Mal im Druck belegt (Erichsen 1786). 1985 wurde sie zusammen mit anderen isländischen Handschriften in ihre Heimat zurückgeliefert. Die Nibelungensage ist vollständig überliefert (Bl. 28v–31r).
  • T: Utrecht, Universiteitsbibliotheek, Traj 1374. Diese Handschrift besteht aus 53 paginierten Papierblättern. Das erste Blatt ist ein Brief des Isländers Bjarni Jónsson an seinen Bruder Páll Jónsson, der vermutlich den Text ausschrieb. Die Aufzeichnung ist kurz nach dem 1595 datierten Brief entstanden und enthält alle drei Teile der Prosa-Edda, jedoch mit vielen Kürzungen und Lücken. Die unbekannte Vorlage scheint aus dem Ende des 13. Jahrhunderts gestammt zu haben. Die frühe Geschichte der Handschrift ist unbekannt. Als sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, befand sie sich schon in Utrecht. Die Nibelungensage ist vollständig überliefert (Bl. 29v–32r)
  • U: Uppsala, Universitetsbibliotek, DG 11. Diese Handschrift besteht aus 56 paginierten Pergamentblättern. Sie entstand im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts und gilt als der älteste Textzeuge. Sie enthält alle drei Teile der Prosa-Edda, die jedoch in drei verschiedene Teile gespalten ist (Bl. 1r–21v, 26r–44r, 47r–55r). Im Vergleich zur übrigen Überlieferung ist der Text erheblich kürzer und besonders im Skáldskaparmál völlig umgestellt. Hier finden wir diese Kapitelfolge: II 17f, 3, 2–16, 19f, 22–32, 36–39, 44–56, 63–74, 58, 60, 62, 50, 34–36, 39f, 44, 43, 45 (vgl. Jónsson 1900, S. iii). Die frühe Geschichte der Handschrift ist unbekannt. 1639 wurde sie von Bischof Brynjólfur Sveinsson an den dänischen Historiker Stephan Hansen Stephanius geschickt. Nach dem Tod dieses Gelehrten 1650 verkaufte seine Witwe einen großen Teil seiner Büchersammlung an den schwedischen Staatsmann Magnus Gabriel De la Gardie. Er schenkte 1669 die Handschrift der Prosa-Edda an die Bibliothek von Uppsala. Die Nibelungensage fehlt an der gewöhnlichen Stelle und erscheint erst zum Schluss in einer Kurzfassung, die mit Fafnirs Verwandlung in einen Drachen und der Wegreise seines Bruders Regin endet. Die erzählte Vorgeschichte über die Otterbuße und den Bruderstreit gehört eigentlich nicht zur Nibelungensage.
  • W: Reykjavík, Stofnun Árna Magnússonar, AM 242 fol. Diese Handschrift besteht aus 89 paginierten Blättern. Der ältere Teil ist aus Pergament und entspricht den Seiten 2–60, 73–76, 77–120, 139–150, 155–156 und 167–170. Er entstand zwischen 1340 und 1370. Zwischen 1635 und 1637 fügte Ole Worm weitere Papierblätter ein, die er und sein Amanuensis Sveinn Jónsson vermutlich zum Teil selbst ausgeschrieben hatten. Die Handschrift enthält vier Texte und beginnt mit der Prosa-Edda, die jedoch mitten im Skáldskaparmál durch vier grammatische Texte in zwei Teile gespalten ist (S. 2–82, 121–152). Sieben Besitzer sind bekannt: (1) Jón Sigmundssonlögmaður (‘Gesetzesmann’) im nordwestlichen Island, trug unten auf Seite 147 seinen Namen ein; (2) Bischof Guðbrandur Þorláksson, ein Enkel von Jón Sigmundsson, trug sein Monogramm unter dem heute unlesbaren Namen seines Großvaters ein (S. 147); (3) der Gelehrte Arngrímur Jónsson , der mit dem Bischof verwandt war, übernahm spätestens 1609 die Handschrift und schrieb vermutlich selbst den Besitzvermerk unten auf Seite 76 im Namen eines anderen Verwandten; (4) der dänische Reichsarchivar Ole Worm bekam 1628 die Handschrift zugeschickt, trug seinen Namen auf Seite 1 ein und vermachte die Handschrift seinem Sohn (5) Willum Worm, der sie ebenfalls seinem Sohn (6) Christen Worm weitergab. Von ihm gelangte sie 1706 an (7) Árni Magnússon und kehrte 1985 mit anderen Handschrifen nach Island zurück. Nach Ole Worm wird die Handschrift gewöhnlich Codex Wormianus genannt. Die Nibelungensage ist vollständig überliefert (S. 61–68).

Editionen

  • Die Erstausgabe von 1665 basierte auf einer Umarbeitung, die einige Jahre zuvor auf der Grundlage des Codex Wormianus (W) entstanden war. Dem Herausgeber Peder Hansen Resen war der damals gerade in Kopenhagen angekommene Codex Regius (R) ebenfalls bekannt. Die zweite Edition wurde 1746 vom schwedischen Pfarrer Johan Göransson nach dem Codex Upsaliensis (U) herausgegeben. Er vermutete, der Text sei 300 Jahre vor der Gründung Trojas auf den Tafeln von Moses aufgezeichnet worden (Vorwort). Die erste wissenschaftliche Ausgabe wurde 1818 vom dänischen Sprachforscher Rasmus Rask besorgt. Als Leithandschrift benutzte er wie alle Nachfolger den Codex Regius. 1848 entstanden die beiden ersten Ausgaben mit allen drei Teilen. Diejenige des isländischen Theologen Sveinbjörn Egilsson genügte nicht den gängigen wissenschaftlichen Forderungen. Die andere von der Arnamagnäanischen Kommission mit der Hilfe des isländischen Philologen Jón Sigurðsson veröffentlichte Edition gilt bis heute als maßgeblich. Der erste Band von 1848 enthielt einen nach dem Codex Regius hergestellten kritischen Text, der zweite Band von 1852 unter anderem einen diplomatischen Abdruck des Codex Upsaliensis und der Fragmente, der dritte Band von 1880/1887 ausführliche Beschreibungen der Handschriften. Zwischen 1900 und 1931 besorgte der Isländer Finnur Jónsson als Professor in Kopenhagen verschiedene Neuausgaben. Die letzte Ausgabe der Prosa-Edda ist diejenige von Anthony Faulkes, heute emeritiertem Professor für Altskandinavistik der University of Birmingham. Sein Text erschien zwischen 1982 und 1998 in Oxford als vierbändige Ausgabe und kam zwischen 2005 und 2007 in einer verbesserten Neuauflage heraus.
  • In den Handschriften sind die Texte durch Initialen in Abschnitte gegliedert. Diese Gliederung, die verhältnismäßig einheitlich ist, dient in den Ausgaben als Grundlage für die Kapiteleinteilung. Die gängige Gliederung geht auf Rasks Ausgabe (1818) zurück. Hier war der Prolog in 11 Kapitel, die Gylfaginning in 54 Kapitel und die unvollständig edierte Skáldskaparmál in 66 Kapitel geteilt. Zwischen den beiden Teilen gab es einen separaten Epilog in 4 Kapiteln über Ägir. Diese Kapitel, die von 55 bis 58 gezählt wurden, dienen inhaltlich eine Einleitung des Skáldskaparmál, und werden deshalb heute in den zweiten Teil eingegliedert. Sigurđsson (1848) übernahm Rasks Gliederung und setzte sie mit 9 zusätzlichen Kapiteln im Skáldskaparmál (Kap. 67–75) und 98 fortlaufend gezählten Kapiteln im Háttatal (Kap. 76–172) fort. Das letzte Kapitel des Skáldskaparmál ist ein Namensverzeichnis, das von späteren Herausgebern oft weggelassen wurde. Im Háttatal hatte Sigurđsson eine parallele Strophenzählung von 1 bis 102. Dagegen zählte er nicht die Strophen in den beiden ersten Teilen des Werks. Jónsson reduzierte zunächst die Kapitelzahl des Skáldskaparmál auf 72 (1900) und kehrte dann zur herkömmlichen Zählung zurück und kam durch Weglassung des Namensverzeichnisses auf 74 (1907). In seiner letzten Ausgabe steigerte Jónsson die Kapitelzahl auf 89 und zählte gleichzeitig die Strophen von 1 bis 517 (1931). Faulknes kehrte zu Rasks System zurück. In den meisten Ausgaben beginnt die Nibelungensage in Kapitel 39, bei Jónsson jedoch auch in Kapitel 37 (1900) und Kapitel 47 (1931).

Inhalt der Prosa-Edda

  • Vorwort (nur U): „Dieses Buch heißt Edda. Snorri Sturluson hat es auf die Art zusammengestellt, die hier eingerichtet ist. Zuerst von den Asen und Ymir, danach die Sprache der Dichtkunst und die Benennungen vieler Dinge, schließlich das Verzeichnis der Versarten, das Snorri für König Hákon und Herzog Skúli gedichtet hat.“
  • Prolog: Nach der Schaffung der Welt kam die Sintflut, und dann verbreiteten sich die Menschen über die Erde. Die Welt ist in drei Kontinente eingeteilt. In der Mitte liegt Tyrkland, wo einst Troja erbaut wurde. König Priamus’ Enkel hieß Tror, aber wir nennen ihn Thor. Er erforschte die Welt und kam in den Norden, wo er Sibil alias Sif heiratete. Von diesen beiden stammt Odin ab, den andere Woden nennen. Er heiratete Frigida alias Frigg. Sie fuhren in die Welt und bekamen viele Söhne. Odin setzten einen als Herrscher über Ostsachen ein, einen anderen über Westfalen, einen dritten über Franken. Letzterer hieß Sigi und war Vater von Rerir. Von ihm stammt das Geschlecht der Völsungen ab. Der vierte Sohn war Skjöld. Er wurde Stammvater der dänischen Könige. Odin zog weiter nach Norden und setzte einen Sohn über Norwegen und einen anderen über Schweden ein. Die Asiaten wurden im Norden Asen genannt, und ihre Sprache wurde hier zur Landessprache.
  • I Gylfaginning (‘Gylfis Täuschung’): König Gylfi herrschte über Schweden. Er wunderte sich über die Macht der Asen und machte sich auf den Weg nach Asgard. Dort verkleidete er sich als Greis und nannte sich Gangleri. In der Halle von Asgard erblickte er drei Männer in Hochsitzen. Sie stellten sich als der Hohe, der Gleichhohe und der Dritte vor. Diese drei befragte Gylfi alias Gangleri über die Götter, den Anfang der Welt, den Himmel, den Wohnort der Götter, die Jahreszeiten, die Helden in Valhalla und vieles mehr. Der Hohe klärte seinen Gast über die Götterwelt auf und erzählte ihm auch die Geschichten von Thors Reise zum Riesen Utgard-Loki und von Balders Tod. Zum Schluss hörte Gylfi ein Getöse, und die ganze Halle verschwand. Er erzählte später, was er gesehen und gehört hatte, und nach ihm wurde die Geschichte mündlich überliefert.
  • II Skáldskaparmál (‘Sprache der Dichtkunst’): Ein Mann aus der Kattegat-Insel Læsø unternahm eine neue Reise nach Asgard. Er hieß Ägir oder Hler. In der Halle sah er alle Götter und unterhielt sich beim Festmahl mit Bragi, dem Gott der Dichtkunst. Dieser erzählte ihm vom Diebstahl von Iduns Äpfeln, die ewige Jugend verleihen, und von der Heimholung des Mets, der jeden, der davon trinkt, zum Dichter macht. Ägir befragte Bragi über die Dichtkunst und wurde vom Gott aufgeklärt. Bragi führt zahlreiche Beispiele von Strophen an und zitiert den Namen des jeweiligen Skalden. Er erklärt seinem Gast die Herkunft der geläufigen Umschreibungen für die Dichtkunst, die Götter, den Himmel, die Erde, das Meer, den Mann, die Frau, das Gold, die Schlacht und Christus. Die Umschreibungen für Gold werden größtenteils mit Prosaerzählungen belegt. Die längste davon ist die Nibelungensage, die als Erklärung für die Bezeichnung des Goldes als Otterbuße dient.
  • III Háttatal (‘Verzeichnis der Versarten’): Dieser Teil ist eine Verslehre mit 102 Strophen und einem Prosatext, der die Beispiele kommentiert. Es ist gleichzeitig ein Preisgedicht auf Snorris Freund Jarl Skúli und den norwegischen König Hákon Hákonarson. Der erste Teil des Háttatal (III 1–30) ist dem König, der zweite (III 31–67) dem Jarl, der dritte (III 68–102) beiden Männern gewidmet.

SnorraEddaU50

Gylfi befragt die drei Häuptlinge (Codex Upsaliensis, S. 50; 1300–1325)

File:Manuscript Gylfi.jpg

Dieselbe Szene (Reykjavík, Stofnun Árna Magnússonar, SÁM 66; 1765/1766)

Zusammenfassung des Nibelungenteils

  • Die Otterbuße (II 39): Eines Tages wollten Odin, Loki und Höner die Welt erforschen und gelangten zu einem Fluss. Dort warf Loki einen Stein auf einen Otter und einen Lachs und töteten sie. Mit ihrer Beute wollten die Asen im Hof des zauberkundigen Bauern Hreidmar übernachten. Es stellt sich heraus, dass der Otter dessen Sohn war. Deshalb werden die drei Asen vom Bauern und seinen zwei anderen Söhnen Fafnir und Regin gefesselt. Als Lösegeld müssen sie den Balg des Otters mit Gold füllen und bedecken. Loki wird von Odin zum Zwerg Andvari ausgeschickt. Dieser hat einen großen Goldschatz in einem Felsen und dazu noch einen Ring, der den Reichtum seines Besitzers vermehren kann. Loki verlangt Schatz und Ring, und Andvari muss alles hergeben. Als Rache für den Diebstahl verflucht er den Ring und prophezeit jedem künftigen Besitzer den Tod. Im Bauernhof werden Gold und Ring Hreidmar als Lösegeld überreicht. Da der Vater den Schatz nicht mit seinen Söhnen teilen will, wird er als erstes Opfer des Fluchs von ihnen erschlagen. Die Brüder streiten sich dann um das Erbe. Fafnir verjagt Regin, verwandelt sich in einen Drachen und zieht mit dem Gold auf die Gnitaheide.
  • Die Ermordung des Drachen (II 39): Regin fährt zu König Hjalprek nach Thjod, wird dort Schmied und adoptiert Sigurd. Dieser ist Sohn von Sigmund, dem Sohn Völsungs, und Hjördis, der Tochter Eylimis. Regin schmiedet ihm das scharfe Schwert Gram, damit er seinen Bruder tötet. Zusammen ziehen sie auf die Gnitaheide, und Sigurd tötet Fafnir. Regin erklärt ihm, dass er das Herz des Drachen braten soll. Dabei verbrennt Sigurd sich einen Finger, steckt ihn in den Mund und versteht die Vogelsprache. Zwei Meisen warnen ihn in zwei Strophen vor dem Schmied. Daraufhin erschlägt Sigurd Regin, lädt Fafnirs Gold auf sein Pferd Grani und reitet fort.
  • Die Doppelehe (II 40f): Sigurd reitet auf einen Berg und findet eine schlafende Frau mit Helm und Brünne in einem Haus. Beim Erwachen stellt sie sich als Hild vor. Sie wird aber Brynhild genannt und ist eine Walküre. Sigurd bricht auf und kommt zu König Gjuki. Dieser ist mit Grimhild verheiratet und hat zwei Söhne Gunnar und Högni, zwei Töchter Gudrun und Gudny und einen Stiefsohn Gotthorm. Dort lässt sich Sigurd nieder, heiratet Gudrun und schwört Brüderschaft mit Gunnar und Högni. Zusammen fahren die drei Männer auf Brautfahrt, um für Gunnar um Brynhild, Tochter Budlis und Schwester Atlis, zu werben. Sie wohnt auf dem Hindfelsen, der von einem lodernden Flammenwall umgeben ist. Sie hat geschworen, nur denjenigen zu heiraten, der die Waberlohe durchreitet. Gunnars Pferd hat Angst. Deshalb tauscht er Gestalt mit Sigurd, der auf Grani die Feuerprobe besteht. Sigurd teilt das Brautlager mit Brynhild, trennt sich jedoch durch sein Schwert von ihr. Als Morgengabe gibt er ihr Andvaris Ring und nimmt einen anderen Ring von ihrer Hand. Mit Gudrun bekommt er zwei Kinder, Sigmund und Svanhild.
  • Sigurds Tod (II 41): Beim Haarwaschen in einem Fluss streiten sich Brynhild und Gudrun über ihre Männer. Da zeigt Gudrun ihrer Schwägerin den Ring als Beweis dafür, dass die Feuerprobe nicht von Gunnar, sondern von Sigurd bestanden wurde. Als Rache stachelt Brynhild ihren Mann Gunnar und ihren Schwager Högni zum Mord an Sigurd auf. Wegen des Schwurs bitten sie ihren Halbbruder Gotthorm, die Missetat zu begehen. Dieser durchbohrt Sigurd im Schlaf mit einem Schwert. Tödlich verwundet wirft Sigurd das Schwert zurück und tötet Gotthorm. Er selbst stirbt dabei zusammen mit seinem Sohn Sigmund. Danach begeht Brynhild Selbstmord und wird zusammen mit Sigurd verbrannt.
  • Gudruns zweite Ehe (II 42): Gudrun heiratet König Atli und bekommt zwei Söhne mit ihm. Dann lädt Atli seine Schwäger zum Fest ein, aber sie verbergen vorsichtshalber das Gold im Rhein. Die Einladung war eine Falle, denn Högni wird bei der Ankunft das Herz herausgeschnitten, Gunnar stirbt harfespielend in einem Schlangenhof. Als Rache tötet Gudrun ihre beiden Söhne und macht Trinkbecher aus ihren Schädeln. Bei der Totenfeier ihrer Brüder Gunnar und Högni nimmt Gudrun die Schädel, schenkt darin ihrem Mann Met, der mit dem Blut der Kinder gemischt ist, gibt ihm auch ihre Herzen zu essen und sagt ihm dann die Wahrheit. In der Nacht danach ermordet sie ihn und legt die Halle in Feuer.
  • Gudruns dritte Ehe (II 42): Nach der Vollstreckung ihrer Rache springt Gudrun ins Meer, um Selbstmord zu begehen, wird aber ins Land des Königs Jonak gespült. Er heiratet sie, und sie bekommen drei Söhne Sörli, Hamdir und Erp. Die Brüder wachsen zusammen mit ihrer bildschönen Halbschwester Svanhild auf. Da wirbt König Jörmunrek durch seinen Sohn Randver um ihre Hand, aber Jarl Bikki empfiehlt dem Königssohn, er solle Svanhild wegen seines jungen Alters selbst nehmen. Dafür verurteilt Jörmunrek seinen eigenen Sohn zum Erhängen. Da rupft Randver einem Falken die Federn aus und schickt ihn zu seinem Vater. Erst nach der Vollstreckung der Strafe sieht Jörmunrek seinen Fehler ein. In Zorn lässt er Svanhild unter Pferdehufen zu Tode treten. Da stachelt Gudrun ihre drei Söhne zur Rache auf. In der Nacht sollen sie Jörmunrek Hände, Füße und Kopf abschlagen. Auf dem Weg zum König erschlagen Sörli und Hamdir ihren Bruder Erp, Gudruns Lieblingssohn. Er sollte Jörmunrek den Kopf abschlagen. Vor Ort gelingt es den beiden Brüdern nur, dem König Hände und Füße abzuschlagen. Sie werden ergriffen und gesteinigt. So endete Gjukis Geschlecht. Es überlebte jedoch Sigurds Tochter Aslaug, und sie führte das Geschlecht der Völsungen weiter. Der Skald Bragi besang in einer Strophe das Schicksal der Völsungen und in fünf weiteren Strophen aus einem Gedicht über Ragnar Lodbrok den Anschlag auf Jörmunrek.

Entstehung der isländischen Nibelungensage

Hintergrund und Widmung

  • Die drei Teile der Prosa-Edda werden im Vorwort des Codex Upsaliensis Snorri Sturluson zugeschrieben. Es besteht kein besonderer Grund, an dieser Zuschreibung zu zweifeln. Der letzte Teil wird ausdrücklich dem König Hákon von Norwegen und dem norwegischen Jarl Skúli gewidmet. Diese doppelte Widmung gilt offensichtlich für das ganze Werk. Skúli wurde 1217 in einem Alter von ca. 28 Jahren Jarl und herrschte bis zu seinem Tod über ein Drittel von Norwegen. Im selben Jahr wurde auch der damals dreizehnjährige Hákon unter drei Thronprätendenten zum König gewählt. Skúli war einer der beiden Gegenkandidaten. Der dritte war Skúlis Neffe Guttorm, ein unehelicher Sohn seines Halbbruders. Bei der Wahl äußerte Skúli Zweifel an Hákons Herkunft. Deshalb musste sich die Mutter des gewählten Königs im folgenden Jahr der Eisenprobe unterwerfen. Nach dem Erfolg dieses Gottesurteils versöhnten sich die beiden Lager zeitweilig, und Hákon heiratete 1225 Skúlis Tochter. Der Frieden dauerte bis Ende 1239. Da lehnte sich der Jarl offen gegen den König auf und wurde nach einer schweren Militärniederlage am 20. Mai 1240 in einem Kloster bei Nidaros (heute Trondheim) ermordet.
  • Kurz nach der umstrittenen Königswahl war Snorri nach Norwegen gekommen und hatte Skúli besucht. Auf dem Festland hielt sich der Isländer von 1218 bis 1220 auf und unterstützte vor allem den Jarl. Während dieses Aufenthalts kann er mit den Texten Bekanntschaft gemacht haben, die er für die Prosa-Edda benutzte. In Bergen, Norwegens damaliger Hauptstadt, scheint Hákon in seiner Regierungszeit eine erhebliche Bibliothek mit zeitgenössischen lateinischen und volkssprachlichen Werken aus dem Süden gesammelt zu haben. Diese Bibliothek ist nur indirekt durch eine Reihe altnordischer Übersetzungen und Bearbeitungen belegt. Das älteste datierte Werk ist die Tristrams saga, die laut dem Prolog 1226 auf Verlassung des Königs Hákon zustande kam. Vorlage war der Tristan des anglonormannischen Dichters Thomas, der auch als Grundlage für die elsässische Fassung Gottfrieds von Straßburg diente. 1220 kehrte Snorri in seine Heimat Reykholt rund 100 km nördlich von Reykjavík zurück. Nicht allzu lange nach seiner Rückkehr entstand die Prosa-Edda, vielleicht in mehreren Phasen. Später scheint Snorri ein zweites Werk verfasst zu haben, und zwar die Heimskringla, eine Geschichte der norwegischen Könige. 1237 kehrte er für zwei Jahre nach Norwegen zurück und wurde in den Streit zwischen Hákon und Skúli verwickelt. Obwohl der König ihm verboten hatte, das Land zu verlassen, reiste er 1239 nach Island zurück und wurde am 23. September 1241 in Reykholt von königstreuen Landsleuten ermordet. Zu diesem Zeitpunkt galt der Dichter als die mächtigste Person Islands. Die Republik wurde nach seinem Tod unter Druck gesetzt und 1262 vom norwegischen König annektiert. Erst 1944 wurden die Isländer dank der Amerikaner vom Joch der Monarchie befreit und gründeten die heutige Republik.

Die Götterlehre

  • Die Prosa-Edda ist als Lehrbuch für künftige Dichter konzipiert und enthält zahlreiche Zitate aus älteren Skalden, die zuerst von Snorri und meist nur von ihm belegt sind. Der Rationalen Philologie zufolge bleibt die Existenz einer isländischen Poesie vor 1220 ein Postulat, weil keine Handschrift aus dieser Zeit erhalten ist. Im Prinzip kann Snorri selbst seine gesamte Götterlehre und seinen gesamten Dichterparnass erfunden haben. Nur in ganz wenigen Fällen liegen Quellen vor, die er benutzt haben muss. Die nächste belegbare Verwandtschaft weist die Prosa-Edda mit der um 1208 in Dänemark vollendeten Gesta Danorum auf. Beide Werke beginnen mit einer mythischen Erklärung für die Herkunft des dänischen Volks. Bei Saxo ist Skioldus erst der dritte König nach seinem Großvater Dan, dem eponymen Begrunder der dänischen Monarchie. Darüber hinaus finden wir bei beiden Autoren dieselbe euhemeristische Erklärung, dass die früheren heidnischen Götter in Wirklichkeit historische Personen waren, die die Leichtgläubigkeit des Volks missbrauchten. Das breite Pantheon von Göttern, die Snorri besonders in der Gylfaginning beschreibt, wird nur in äußerst begrenztem Maße von älteren Quellen bestätigt. In Skandinavien ist vor Saxo zum Beispiel nur Thor in Runeninschriften belegt. Odin findet seit dem 6. Jahrhundert bei südeuropäischen und englischen Autoren Erwähnung unter den Namen Godan, Woden, Wodan und Wotan. Saxo verzichtet als Erster auf den Anfangsbuchstaben, indem er von Othinus spricht. Odin kann also als künstliche Rückübersetzung in die Volkssprache gedeutet werden. Hauptquelle für Snorris Götterlehre ist Saxos lateinisches Werk, wenn wir uns auf die Rationale Philologie verlassen, denn dieses Modell lässt hypothetische gemeinsame Quellen außer Acht. Bei Saxo kommen ausdrücklich sieben von Snorris Göttern vor. Balderus, Frigga, Frø, Høtherus, Othinus, Thor und Utgarthilocus entsprechen schon phonetisch Baldr, Frigg, Freyr, Hødr, Odin, Thor und Utgard-Loki, weisen aber auch biographische Gemeinsamkeiten mit ihren isländischen Doppelgängern auf. In der wichtigsten Nebenquelle für die Götterlehre der Prosa-Edda, Paulus Diaconus’ Historia gentis Langobardorum, finden wir nur das Ehepaar Godan (oder Wotan) und Frea. Zur Entstehung von Snorris Mythologie, vgl. P. Andersen: „La mythologie de Snorri : renaissance ou création poétique ?“ In: Mythes et mythologies. Actes du colloque international des 6, 7 et 8 mars 2008 à Amiens. Hrsg. von Danielle Buschinger. Amiens 2009 (= Medievales 45), S. 1–13. Zur Entstehung von Snorris Fassung der Nibelungensage, vgl. ders.: „Mourir dedans ou dehors, voilà la question. Quelques réflexions sur la légende des Nibelungen.“ In: Études Médievales 9–10 (2008), S. 30–41, hier S. 35–37 und Andersen 2009, S. 147–154.

Kurzfassung versus Langfassung

  • Im Skáldskaparmál findet sich der zusammenhängende Abschnitt, der auf narrativer Ebene als Erklärung für die Umschreibung des Goldes als Otterbuße dient. Dieser Abschnitt führt jedoch weit über die Geschichte vom Otter hinaus. Gudruns drei Ehen mit Sigurd, Atli und Jonak sind nur ganz schwach durch den Drachenkampf mit der Einleitung über die Erschlagung des Otters verbunden. Über diesen Abschnitt hinaus gibt es im Skáldskaparmál und im Háttatal gelegentliche Anspielungen auf die Nibelungensage: Gudruns Verantwortlichkeit für den Tod ihrer Söhne (II 6), Hamdir und Sörlis Tod (II 48), Atlis, Gunnars und Sigurds Pferde (II 58), die Ahnentafeln der Niflungen, der Budlungen und der Völsungen (II 64), eine Sigurd-Saga (III 35) und den Schatz der Niflungen (III 41).
  • Von den fünf Handschriften, in denen die Nibelungensage überliefert ist, stimmen R, T und W eng miteinander überein. Im Vergleich dazu hat das Fragment C eine Umstellung, eine Weglassung und einen Zusatz. In C werden Sigurds Tochter Aslaug, sein Bruder Sinfjötli und die harte Haut schon nach seinem eigenen Tod erwähnt, in R, T, und W erst nachträglich nach Sörlis und Hamdirs Tod. An der Stelle, wo R, T und W diesen kurzen Abschnitt haben, fügt C eine Umschreibung für Brünne als Sörlis und Hamdirs Kleid hinzu und lässt die erste Strophe des Skalden Bragi über die Völsungen weg. In U fehlt die Nibelungensage fast ganz. An der Stelle, wo sie sich gewöhnlich befindet, begnügt sich diese Redaktion damit, zehn Umschreibungen für Gold aufzulisten: (1) Otterbuße, (2) Buße der Asen, (3) Streiterz, (4) Liegestatt oder (5) Aufenthaltsort Fafnirs, (6) Erz der Gnitaheide, (7) Last Granis, (8) Erbe Fafnirs, (9) Schatz der Niflungen und (10) Saat Krakis (Bl. 31r = Sigurđsson 1852, S. 321). In U werden nur vier der zehn Umschreibungen mit konkreten Erzählungen über den Otter und Hrolf Kraki erklärt (Nr. 1, 2, 3 = Sigurđsson 1852, S. 360; Nr. 10 = Sigurđsson 1852, S. 362). Im Háttatal begegnet zwar die neunte Umschreibung in einer zitierten Strophe (III 41 = Sigurđsson 1852, S. 390), aber die Bezeichnung des Goldes als Schatz der Niflungen wird nirgends erklärt. In der durch R, T und W vertretenen Hauptredaktion finden wir alle zehn Umschreibungen innerhalb von fünf Kapiteln (II 39–43), und dieser Abschnitt wird gerade da angehängt, wo U das Umschreibungsverzeichnis hat.
  • Früher wurde die im Codex Upsaliensis überlieferte Sonderfassung als eine kürzende Bearbeitung des Originals betrachtet, aber diese Hypothese wird heute angezweifelt. Es ist durchaus vorstellbar, dass die ausführlichere und logischere Fassung der übrigen Handschriften in Wirklichkeit aus U erwachsen ist und dass U gleichsam einen Blick in Snorris Werkstatt bietet. Einen vergleichbaren Fall bieten die beiden handschriftlichen Aufzeichnungen der Grimildballade, die nachweisbar als Grundlage für die Druckfassung von 1591 dienten.
  • Es ist bemerkenswert, dass U nur den Anfang über die Otterbuße überliefert. Der betreffende Abschnitt des Codex Upsaliensis endet mit Fafnirs Verwandlung in einen Drachen und Regins Wegreise (Bl. 42r–42v = Sigurđsson 1852, S. 359f). Gerade nach diesen Ereignissen beginnt die Hauptredaktion, Gemeinsamkeiten mit dem Nibelungenlied aufzuweisen. In den folgenden Zeilen ist von Hjalprek, Sigurd, Sigmund und dem Drachenkampf die Rede. Es sieht mit anderen Worten so aus, als sei die Nibelungensage erst in einer zweiten Phase mit der Ottererzählung verbunden worden. Obwohl die eigentliche Sage in U nicht erzählt wird, waren ihre Grundelemente dem Redaktor dieser Fassung bekannt, denn er spricht von Hamdir und Sörli (II 48 = Sigurđsson 1852, S. 328), dem Ursprung der Niflungen und König Gunnar (II 64 = Sigurđsson 1852, S. 343) und Sigurds und Gunnars Pferden (II 58 = Sigurđsson 1852, S. 352). Dagegen übergeht der Codex Upsaliensis die Anspielung auf die Sigurd-Saga, vermutlich weil sie in dieser Phase noch nicht verfasst war (III 35 = Sigurđsson 1852, S. 389). Mit dieser Saga ist wohl die in der Hauptredaktion vorliegende Nibelungensage gemeint.

Erster Teil: Die Otterbuße

  • Da die wichtigsten Elemente der Nibelungensage dem Redaktor der Kurzfassung bekannt war, ist er wahrscheinlich mit dem Redaktor der Langfassung identisch. Alles spricht dafür, dass beide Texte auf Snorri selbst zurückgehen. Während seines Aufenthalts auf dem norwegischen Festland dürfte er mit seinen Quellen Bekanntschaft gemacht haben. Der Rationalen Philologie zufolge entstand die Nibelungensage kurz nach 1200 an der Donau mit dem Nibelungenlied und der Klage und kam bald in handschriftlicher Form nach Skandinavien. Der erste Beleg für die Ankunft der Texte im Norden ist Saxos Erwähnung von Grimildas Verrat rund ein Jahrzehnt vor Snorris Reise nach Norwegen. In diesem Zeitraum müssen nicht nur das Nibelungenlied, sondern auch die Gesta Danorum nach Norwegen gelangt sein. Die Gesta Danorum ist in vieler Hinsicht mit der Heimskringla vergleichbar. Die Geschichte der norwegischen Könige entstand um 1230 und wird gewöhnlich als Snorris Werk betrachtet. Sie belegt indirekt durch Inhalt und Aufbau die Ankunft der Gesta Danorum in Norwegen und Island zu diesem Zeitpunkt. Die Thidrekssaga bestätigt einige Jahrzehnte später das Vorhandensein einer mittelhochdeutschen Handschrift mit dem Nibelungenlied und der Klage in demselben Teil Nordeuropas.
  • Eine zusätzliche Quelle für die isländische Variante der Nibelungensage ist erheblich älter und geht auf die Zeit der Bekehrung Skandinaviens zum Christentum zurück. Es sind zwei Szenen, die seit dem 10. Jahrhundert zu ikonographischen Darstellungen anregten. Die erste Szene zeigt einen unbewaffneten Helden im Kampf mit zahlreichen Schlangen. Auf dem großen Stein in Jelling ist Christus mit schlangenähnlichen Banden gefesselt und dürfte schon diesen Helden darstellen.

Der große Stein in Jelling, Jütland (um 960)

  • Die zweite Szene zeigt einen schwerttragenden Helden (5) im Kampf mit einem Drachen. Er ist von einem Pferd (4) und zwei Vögeln (2) begleitet. Er verbrennt sich einen Finger beim Braten (1) und schlägt neben einem Amboss einem Schmied den Kopf ab. Ein Hammer (3) und ein unidentifiziertes Tier (6) gehören dem erschlagenen Gegner (3). Dieses Szenar ist auf verschiedenen schwedischen Runensteinen zu sehen. Besonders berühmt ist die Felsenritzung beim Ramsund in der Nähe von Stockholm.

Ramsundbis

Felsenritzung am Ramsund bei Stockholm (11. Jh.)

© Jesper Lauridsen, mit freundlicher Erlaubnis (Quelle: http://heimskringla.no)

Beide Szenen werden auf dem Hylestad-Portal zusammengebracht, das sich heute im Kulturhistorisk Museum von Oslo ausgestellt ist.

von Schlangen umgebener, harfespielender Held (Hylestad-Portal, um 1200)

Tötung des Drachen (Hylestad-Portal, um 1200)

  • Wie die beiden Helden heißen, die im Schlangenkampf offenbar ein entgegengesetztes Schicksal erleiden, geht natürlich aus keiner ikonographischen Darstellung hervor. Auf der Runeninschrift der Felsenritzung erklärt eine Frau, dass sie für die Seele ihres Schwiegervaters eine Brücke erbauen ließ. Über dem Ramsund befand sich tatsächlich früher eine Brücke. Die Namen der beiden Helden erfahren wir zum ersten Mal aus dem Reisebericht des isländischen Abts Nikulas. Er unternahm um 1155 eine Pilgerfahrt nach Rom und sah unweit von Mainz die „Gnitaheide, wo Sigurd Fafnir erschlug“ (Gnita-heidr er Sigurdr va ath Fabni) und in Luni in Norditalien den „Schlangenhof, in den Gunnar geworfen wurde“ (ormgard er Gunnar var i settr). Die drei Personennamen, die der Abt hier erwähnt, evozieren alle etwas für sie Charakteristisches. Sigurd ist eine kontrahierte Form für Sigvart (‘Siegeswart’) und erinnert an Sieg, Gunnar bedeutet ‘Kampf’, und Fafnir ist wohl von isl. faðmr, altdän. fafn (‘Klafter’) abgeleitet (vgl. HC 2512: faffn). Der Drache ist also der ‘Umarmende’. Die Namen der beiden Helden entsprechen dem Ausgang ihres jeweiligen Kampfes. Gunnar kämpft und unterliegt, Sigurd kämpft und siegt. In beiden Fällen müssen die Schlangen das Böse symbolisieren. Die Ikonographie kann nicht auf einer heidnischen Götterlehre beruhen, denn sie war vor einer Kirche und bei einer Brücke zu finden, die von einer Christin erbaut wurde. Anscheinend vollzog erst Snorri in der Prosa-Edda eine gleichsam heidnische Umdeutung der christlichen Ikonographie, die er in Norwegen gesehen hatte. Zu dieser Umdeutung, vgl. Andersen 2009 (siehe oben).
  • Wenn wir uns vorstellen, dass die Ottererzählung vor der Bearbeitung der eigentlichen Nibelungensage entstand, ist der Name des Drachen vielleicht die einzige textgenealogische Grundlage für diesen Teil. Die Ottererzählung weist zumindest keine Gemeinsamkeit mit irgendeinem älteren Text oder irgendeiner ikonographischen Darstellung auf. Sie berichtet von einer Reise der Götter in die Welt der Menschen, und die unmittelbare Folge dieser Reise ist die Ankunft eines goldhütenden Drachen auf die Gnitaheide.

Zweiter Teil: Die Ermordung des Drachen

  • Bei der Umgestaltung der Prosa-Edda sah Snorri offenbar ein, dass er seinem Leser eine Erklärung für den Schatz der Niflungen schuldig geblieben war. Das war die neunte Goldumschreibung, die er schon in der ersten Redaktion des Háttatal benutzt hatte. Auch die Last Granis harrte einer Erklärung. Um die Erzählung weiterzuführen, identifizierte Snorri den weggeflohenen Bauernsohn Regin mit dem enthaupteten Schmied, den er von der Ikonographie kannte. Regin bedeutet soviel wie ‘Schicksalsmacht’. Den Drachentöter nannte Snorri Sigurd nach dem lokalen Helden und gab ihm nach deutschem Vorbild eine Familie. Dem Nibelungenlied entlehnte er den Namen des Vaters, taufte aber Sieglinde in Hjördis um, vielleicht weil er (wie Wagner) die Namensähnlichkeit der Eltern als Ausdruck einer inzestuösen Beziehung auffasste. Hjördis bedeutet ‘Göttin mit dem Schwert’, und das passte besser zu ihrem kriegerischen Sohn. Bei dieser Namenswahl kann dem Dichter auch seine eigene Ehefrau Herdís Bersadóttir (†1233) vorgeschwebt haben (vgl. Íslendinga saga 10, 21).
  • Im Nibelungenlied besitzt Sigurd in Norwegen ein zweites Gebiet, das er offenbar nicht von seinen Eltern geerbt hat. Es ist der Ort der Horterwerbung und wird vom Zwerg Alberich regiert. Im Epos ist dieser Herrscher nur Kämmerer. Snorri erhebt ihn zum König, gibt ihm den sprechenden Namen Hjalprek (‘hilfreich’) und verlegt sein Königreich nach Süden, vielleicht um ihn nicht zu einem Vorgänger von König Hákon zu machen. Das Gebiet Thiod, wo Hjalprek herrscht und wo Sigurd aufwächst, scheint mit Thy in Nordjütland identisch zu sein. So hieß diese dänische Gegend im 13. Jahrhundert. Regin, der von der Ottererzählung stammte, tritt als Schmied in Hjalpreks Dienst und schlägt damit eine Brücke zwischen Vor- und Hauptgeschichte. Da das Nibelungenlied nichts von Siegfrieds Jugend berichtet, ließ sich Snorri für diesen Teil von der norwegischen Ikonographie inspirieren. Das Schmieden des Schwerts und die Zerspaltung des Ambosses erinnern sowohl an die Ramsund-Ritzung als auch an das Hylestad-Portal. Beim Drachenkampf selbst verschmilzt die Ikonographie mit dem schriftlich fixierten mittelhochdeutschen Epos. Das theatralische Braten des Drachenherzes und das damit verbundene Märchenmotiv, dass Drachenblut die Fähigkeit verleiht, die Sprache der Natur zu verstehen, verdrängen nach dem Kampf das groteske Bad im Drachenblut und das höfische Minnemotiv mit dem Lindenblatt, das die Weichheit der Haut an der Stelle des Herzes beschützt. Auf dem Hylestad-Portal sehen die beiden Vögel wie Singvögel aus. Snorri macht sie zu Meisen und lässt sie in zwei Strophen den nichtsahnenden Helden vor dem Schmied warnen.

ein Pferd und zwei Vögel (Hylestad-Portal, um 1200)

  • Sigurd tötet den Verräter und setzt sich auf sein Pferd, das im Nibelungenlied nicht einmal erwähnt wird. Schon in der ersten Fassung des Skáldskaparmál hatte Snorri bei einer Auflistung von Pferdenamen dieses Ross Grani genannt. Vor allem war Last Granis eine seiner zehn Umschreibungen für Gold. So mündet der zweite Teil der Erzählung in eine Erklärung für vier weitere Umschreibungen: Liegestatt oder Aufenthaltsort Fafnirs, Erz der Gnitaheide und Last Granis.

Dritter Teil: Die Doppelehe

  • Im folgenden Teil geht es um zwei eheliche Verbindungen, im Epos zwischen Siegfried und Kriemhild einerseits, Gunther und Brünhild andererseits. Die Beziehung zwischen Siegfried und Brünhild ist zweideutig, denn der Epiker gibt durch mehrere Bemerkungen zu verstehen, dass die beiden sich schon vor dem Anfang der Handlung getroffen haben. Sie sind ja sowieso Nachbarn. Snorri berichtet gradlinig und vermeidet dunkle Anspielungen und störende Rückblenden. Deshalb beschreibt er eine konkrete Begegnung zwischen Sigurd und Brynhild vor der Fahrt des Helden zu seiner künftigen Ehefrau. Wie Snorri den norwegischen Schauplatz der Horterwerbung diskret nach Dänemark verlegt, verschweigt er, dass Brynhilds Berg ursprünglich in seiner eigenen Heimat lag. Er entscheidet sich dafür, die Burg der isländischen Königin zu einem märchenhaften Flammenort zu verwandeln, und nennt ihn Hindafjall (‘Hirschkuhfelsen’). Die feurige Berglandschaft erinnert schwach an die isländischen Vulkane, die Saxo mit Schaudern beschrieben hatte (Gesta Danorum 0 2,7). Der Dichter des Nibelungenlieds gibt keine ausdrückliche Erklärung für den Namen der Inselkönigin, beschreibt sie aber bei den Freierproben als brünnetragende Amazone (NLB 426). Ihr Name erinnert Snorri an Hild, die er in der Gylfaginning bei einer Auflistung von Walküren erwähnt hatte (I 36 = LE Grm 36). Er erklärt deshalb, dass sie eine Walküre ist und dass sie eigentlich Hild heißt. Nur weil sie eine Brünne trage, nenne man sie Brynhild. So klar und pädagogisch drückt sich der raffinierte donauländische Epiker niemals aus. Die erste Begegnung zwischen Sigurd und Brynhild ist keine Romanze. Sie dient nur dazu, den Namen und die Identität der Frau zu erklären und Sigurds spätere Empfehlung an seinen Schwager zu motivieren.
  • Sigurd kommt jetzt endlich zu der Königsfamilie, die in der Prosa-Edda erheblich größer ist als im Epos. Wir erfahren später, dass das Königreich am Rhein liegt. Das ist außer Thiod und der Gnitaheide die einzige geographische Angabe des Texts. Der König wird historisch richtig Gjuki genannt. Ob Snorri damals schon den Gibech aus dem Rosengarten kannte oder den Namen aus der Lex Burgundionum oder dem Waltharius entlehnte, bleibt im Dunkeln. Die neue Benennung ist auf jeden Fall als Korrektur zu sehen. Snorri gibt auch der weiblichen Hauptfigur einen neuen Namen und nennt sie Gudrun. Das war damals auf Island ein sehr geläufiger Name, auch in der unmittelbaren Umgebung des Dichters: „Vielleicht ist Namenswahl […] als Huldigung an Snorris Mätresse Gudrun Hreinsdottir zu sehen.“ (Andersen 2009, S. 152, vgl. Íslendinga saga 1) Gunther wird wegen der Namensähnlichkeit mit dem Helden der Lokalsage in Gunnar umbenannt. Gleichzeitig wird Kriemhilds Hauptgegner unter dem Namen Högni als Bruder und vollberechtigtes Mitglied in die Königsfamilie aufgenommen. Hinzu kommen die bedeutungslose Schwester Gudny und der Halbbruder Gotthorm, vielleicht ein Seitenhieb gegen Skúlis Rivalen und Neffen Guttorm, der auch ein uneheliches Kind war. Die zusätzliche Schwester, die nur hier erwähnt wird, befremdet: „Durch diese willkürliche Familienvergrößerung kann der Dichter seiner eigenen, damals gerade verstorbenen Mutter Gudny Bödvarsdottir (1147–1221) ein würdiges Denkmal gesetzt haben.“ (Andersen 2009, S. 152, vgl. Íslendinga saga 1–57) Gotthorm wird von Snorri mit dem Mordanschlag beauftragt, vielleicht um Gunnar und Högni zu entlasten. In der Prosa-Edda heiratet Sigurd die Königstochter Gudrun, ohne sie vorher mit irgendeiner Heldentat beeindruckt zu haben. Die Prosa-Edda ist kein Minneroman, Sigurd kein Ritter, der sich wie im weichen Südeuropa in den Dienst einer Frau stellt.
  • Wie ihre Doppelgänger im Epos gehen Gunnar und Sigurd zusammen auf Brautfahrt, aber letzterer diesmal als Ehemann. Die beiden Handlungsstränge des Nibelungenlieds rücken in der Neufassung genealogisch näher zusammen, indem Brynhild zu Atlis Schwester verwandelt wird. Die drei athletischen und wenig weiblich anmutenden Freierproben werden durch den Ritt durch die anschaulichere Waberlohe ersetzt, die Tarnkappe durch einen Gestaltentausch. Nach bestandener Feuerprobe schläft Sigurd neben der Walküre, doch mit trennendem Schwert. Dieses Keuschheitsmotiv stammt aus Thomas’ Tristan und fand Eingang in die isländische Literatur durch die lokale Bearbeitung des anglonormannischen Ehebruchsromans (Tristrams saga 65). Wenn Snorri das Motiv aus dieser Saga entlehnte, kann er den Hauptteil der Nibelungensage erst nach 1226 vollendet haben.
  • Die gemeinsame Nacht auf dem Hindafjall enthält auch eine Reminiszenz an das mittelhochdeutsche Epos. Im Nibelungenlied raubt Siegfried einen Ring nach dem Kampf im Wormser Schlafzimmer und zieht sich dann zurück. In der isländischen Fassung gibt es zwei Ringe, denjenigen aus dem Epos, den Sigurd mitnimmt, und denjenigen, den Andvari verflucht und den der Drachentöter mit dem Schatz übernommen hat.

Vierter Teil: Sigurds Tod

  • Die Doppelhochzeit in Worms und die zehnjährige Trennung der beiden Ehepaare werden aus erzähltechnischen Gründen gestrichen. Snorri ist um Spannung und optische Spezialeffekte bemüht und lässt die Handlung nie zur Ruhe kommen. In der Prosa-Edda finden wir keine biedermeierschen Schneiderszenen. Der Isländer begnügt sich mit den wichtigsten Angaben und motiviert die Handlung in hohem Ausmaße mit sippenmäßigen Beweggründen. Wie im Epos bekommt der Drachentöter eine Nachkommenschaft in seiner Ehe. Er nennt logischerweise seinen Sohn Sigmund nach seinem eigenen Vater, nicht Gunnar nach seinem furchtsamen Schwager. Sigurd bekommt außerdem die Tochter Svanhild, die aus der Gesta Danorum (VIII 10,8–14) stammt und die im letzten Teil der Erzählung eine entscheidende Rolle spielen wird.
  • Wie im Epos führt ein Frauenzank zum Tod des Drachentöters. Gudrun und Brynhild streiten sich jetzt nicht vor einem Münster, sondern in einem Fluss. Alle südlichen Gebäude werden durch eine isländische Naturlandschaft ersetzt. In der Prosa-Edda finden wir weder Burgen, Kirchen noch Klöster. Beim Baden zeigt Gudrun mitten im Fluss ihrer Schwägerin den geraubten Ring, und diese Beleidigung führt zum Mord. Sigurd wird nicht bei einer Waldquelle getötet, sondern ganz unheroisch im Bett. Auch sein Sohn Sigmund kommt dabei ums Leben, damit das Geschlecht in männlicher Linie aufhört. Brynhild wird ebenfalls durch einen unmotivierten Selbstmord aus der Handlung entfernt. Im Epos leben sowohl Brünhild als auch der kleine Gunther bis zum Ende der Sage.

Fünfter Teil: Gudruns zweite Ehe

  • Der nächste Teil der Erzählung beginnt mit Gudruns zweiter Eheschließung. Sie heiratet ihren Schwager Atli ohne Trauer noch Rachsucht. Wie in ihrer ersten Ehe bekommt sie zwei Kinder, diesmal nur Söhne. Sie bleiben anonym. König Atli ergreift offenbar selbst die Initiative zum Fest und hat anscheinend böse Hintergedanken, obwohl dies nicht explizite erklärt wird. In der Prosa-Edda bleibt es zunächst im Dunkeln, ob die Königin ihre Geschwister sehen möchte oder ob der König selbst auf den Schatz aus ist. Gunnar und Högni misstrauen Atli und verstecken das Gold vor der Abreise. Der epische Burgundenuntergang wird in der isländischen Fassung in wenigen Zeilen zusammengefasst. Die beiden Brüder sind offenbar ohne Gefolge zum Fest gekommen und werden nach erstaunlich kurzem Widerstand ergriffen und hingerichtet. Der Überfall lässt vermuten, dass Atli naiv gehofft hatte, dass seine Gäste mit dem ganzen Schatz zum Fest kommen. Högni, für dessen Tod der Norden kein ikonographisches Gegenstück besaß, überlässt ganz logisch dem lokalen Helden Gunnar den Platz als letztes Opfer. Deshalb sterben die beiden bei Snorri in umgekehrter Reihenfolge. Wenn Högni das Herz herausgeschnitten wird, liegt es vielleicht an einer Verschmelzung von Hagens Enthauptung mit dem nordischen Drachentod. Gunnar endet in Übereinstimmung mit der Lokalsage sein Leben harfespielend im Schlangenhof. Mit seinem Tod ist die mittelhochdeutsche Hauptquelle erschöpft. Für handlungsarme Klagen und traurige Botschaften hat Snorri keinen Platz übrig. Er lässt dagegen seine weibliche Hauptfigur das Fest überleben, denn er braucht sie für die weitere Handlung.
  • Im Epos geht es um raffinierte Minne, im Norden um Sippentreue. Gudrun bleibt nach wie vor eine rachsüchtige Gestalt, aber richtet jetzt ihre Wut gegen ihren zweiten Ehemann, nicht gegen den Mörder ihres ersten Mannes. Ihr Halbbruder hat seine Missetat ohnehin nicht überlebt. Für die Rache benutzt Gudrun, wie im Epos angedeutet, ihre eigene Nachkommenschaft. Im Nibelungenlied gibt der Dichter zu verstehen, dass Kriemhild ihren Sohn Ortlieb ausnützt, um einen offenen Streit auszulösen, und dass sie also für seinen Tod verantwortlich ist. In der Prosa-Edda wird es nicht angedeutet, sondern unverhohlen erklärt, dass Gudrun ihre beiden Söhne tötet. Die Verwandlung der Schädel in Trinkbecher ist ein Motiv, das wir in der Wielandsage wiederfinden. Die ersten schriftlichen Zeugnisse sind die Völundarkviða (Vkv 24f) und die Thidrekssaga (TS 73), wo der Schmied Wieland als Rache für seine eigene Körperverletzung zwei Königssöhne erschlägt, um ihre Hirnschalen mit Silber zu überziehen und darin dem Vater der Kinder Bier zu bieten. Diese Geschichte scheint schon sehr viel früher existiert zu haben, denn eine ähnliche Szene ist auf dem berühmten Runenkästchen von Auzon aus dem Anfang des 8. Jahrhunderts zu sehen.

AuzonKästchen

Wielandsage auf dem Runenkästchen von Auzon (London, British Museum; 8. Jh.)

  • Schriftlich ist das Schädelmotiv zum ersten Mal am Ende des achten Jahrhunderts in der Historia Langobardorum belegt. Hier lässt Alboin, König der Lombarden, seinen Schwiegervater töten und bietet seiner Frau Rosemund Wein im Schädel des Ermordeten. Als Rache dafür tötet sie ihren Ehemann, den König, in seinem Schlaf und genießt dabei die Hilfe eines Mannes. Bei Snorri ist Atli das Opfer der List mit den Schädeln, wird aber in ähnlicher Weise im Schlaf von Gudrun und einem Sohn Högnis ermordet. Zur Steigerung der Rache kommt das weitverbreitete Motiv des gegessenen Herzes hinzu. Es kommt in Thomas’ Tristan vor, gelangte aber an der entsprechenden Stelle nicht in die isländische Bearbeitung (Tristrams saga 72). Snorri kann es jedoch aus einer der vielen anderen damaligen Fassungen der Sage gekannt haben.

Sechster Teil: Gudruns dritte Ehe

  • Für den letzten Teil seiner Erzählung lässt sich Snorri vor allem von Saxo anregen. Die Geschichte vom grausamen Gotenkönig Ermanarich, der eine Frau von Pferden zerreißen ließ und als Rache dafür von ihren Brüdern schwer verwundet wurde, war vor Snorri von verschiedenen Autoren erzählt worden, zum ersten Mal um 550 von Jordanes. In seiner Getica (XXIV) heißen die vier Gestalten Hermanicus, Sunilda, Sarus und Ammius. Um 1125 wird Jordanes von Ekkehard von Aura fast wörtlich zitiert, aber die Gestalten bekommen neue Namen und heißen jetzt Ermenricus, Hamido, Sarilo und Suanihilda. Einmal wird ein zusätzlicher Bruder namens Odoacer genannt. Diese Formen stimmen weitgehend mit denjenigen der Prosa-Edda überein. Die Geschichte selbst stammt dagegen von Saxo. In der Gesta Danorum erscheint ein Bote namens Biccus, und der Ehemann der ermordeten Frau tritt als Broderus aus der Namenlosigkeit. Bei Saxo ist er der Sohn von König Jarmericus. Die beiden Namen Biccus und Broderus scheinen in der isländischen Fassung zu Bikki und Randver geworden zu sein. Saxo hat andere Einzelheiten mit Snorri gemeinsam. Vor allem lässt der König seinen eigenen Sohn hinrichten, weil er ihn des Geschlechtsverkehrs mit seiner eigenen Beischläferin verdächtigt. Saxo nennt sie Suanilda. Vor seiner Hinrichtung schickt Broderus einen Falken zu seinem Vater, und der Vogel beginnt seine Federn auszurupfen, um dem König zu zeigen, dass er riskiert, kinderlos zu werden. Daraufhin verzichtet Jarmericus auf die Hinrichtung seines Sohns. Bei Snorri finden wir fast dieselbe Geschichte, aber sie endet dramatischer. Der König besinnt sich nämlich eines Besseren zu spät, und Randver stirbt am Galgen. Bei Saxo gibt es vier Brüder, und sie sind anonym. Für Gudruns dritten Ehemann Jonak liefern die lateinischen Texte kein Vorbild. Für die Frau selbst scheint Saxos Zauberin Guthruna, die den Brüdern hilft, als Patin gestanden zu haben. Nach dem Tod von Svanhild und ihren drei Brüdern zieht Snorri die Bilanz, dass Gjukis Geschlecht zu Ende kam. Er schließt seinen Bericht mit einer Umschreibung ab und erklärt, in der Dichtung werde die Brünne Kleid oder Gewand Hamdirs und Sörlis genannt. Danach zitiert Snorri fünf Strophen aus einem Gedicht über Ragnar Lodbrok. Dieser Held ist ein dänischer Fürst, dem Saxo im neunten Buch große Aufmerksamkeit schenkt. Auf Latein heißt er Regnerus. Nachdem Snorri die Strophen aus dem unbekannten Gedicht zitiert hat, geht er zu einem neuen Thema über und erzählt vom Dänenkönig Frodi, dem wichtigsten Herrscher im älteren Teil der Gesta Danorum. Saxo nennt ihn Frotho und widmet ihm ein ganzes Buch (V).