Grimildballade

Die Grimildballade (GB) ist ein dänisches Lied, das den Verrat der Titelfigur an ihren Brüdern beschreibt. Die Ballade erschien 1591 in einer Sammlung von hundert anonymen Liedern mit Bezug auf die dänische Geschichte und wurde von seinem Herausgeber, dem Historiker Anders Sørensen Vedel  (1542–1616), mit dem Lied identifiziert, das ein sächsischer Sänger laut Saxo Grammaticus 1131 dem Herzog Knud Lavard vorgesungen haben soll, um ihn vor dem Verrat seines Vetters zu warnen.

Kurzbeschreibung

Überlieferung und Edition

  • Die Grimildballade liegt in zwei undatierten handschriftlichen Fassungen vor. Sie sind als Stück 23 (Bl. 27r–30r) und 56 (Bl. 110v–113r) in dieselbe Liederhandschrift (Kopenhagen, Det Kongelige Bibliothek, NKS 815,b,a,4°) eingetragen. Diese Handschrift ist eines der drei erhaltenen Balladenbücher, die Anders Sørensen Vedel gehört und ihm als Vorlagen für sein gedrucktes Balladenbuch von 1591 gedient haben. Die handschriftlichen Fassungen stammen aus dem Zeitraum 1575–1591 und wurden von verschiedenen anonymen Schreiberhänden aufgezeichnet. Es handelt sich um Sekretäre hauptsächlich jütländischer Herkunft, die nach Vedels Diktat arbeiteten. Es sind oft schlampige Aufzeichnungen mit verworrener Handlungsfolge und verderbten Namensformen. Die Strophenteilung ist nicht konsequent durchgeführt, so dass einige Strophen eine Länge von 12 Versen erreichen. Die Balladen sind in Knittelversen (xaxa) mit meist drei Hebungen verfasst. Zahlreiche Verse haben unreine Reime, einige sind sogar reimlos. Es handelt sich um ungeschliffene Entwürfe, die uns einen einmaligen Einblick in die Werkstatt des Dichters erlauben. Für die Grimhildballade haben wir das Glück, das wir alle Entstehungsphasen verfolgen können.
  • Die ältere A-Fassung hat die verworrenste Handlung, ist sogar stellenweise unverständlich, aber stimmt besser mit der Nibelungensage überein als alle jüngeren Fassungen. Wegen bestimmter Lesarten kommt als Vorlage nur eine Handschrift der Didrikskrönikan in Frage. Es ist möglich, dass Vedel in den Besitz der heute in Stockholm befindliche Haupthandschrift (S1) gelangt war. Die jüngere B-Fassung entfernt sich deutlich von der Didrikskrönikan und verbessert dafür die innere Handlungslogik und die äußere Form. Keine zusätzliche Quelle ist erkennbar. Nach seinem ersten nachlässigen Entwurf nahm Vedel ganz offensichtlich die Arbeit wieder auf, um die Ballade zu verschönern.
  • Zwischen der ersten und zweiten handschriftlichen Fassung wies Vedel in einer eigenhändigen Randbemerkung (Bl. 54r) auf den Tod eines Kopenhagener Professors im Juli 1586 hin. Dieser Eintrag bietet einen chronologischen Anhaltspunkt. Die A-Fassung muss zwischen 1575 und 1586, die B-Fassung zwischen 1586 und 1591 entstanden sein.
  • Die beiden Fassungen stimmen inhaltlich gut überein und verlegen noch nicht den Schauplatz nach Dänemark. Die Heldin heißt Kremold (A). Sie bedauert Seifrids (A) Tod und lädt die Brüder Hagen (A) und Falquor (A) zum Krieg im „heidnischen Land“ (hedenske land) ein. Beide Fassungen brechen mitten im Kampf ab, während die beiden Brüder noch am Leben sind (DK 334). Die A-Fassung hat 25 Strophen ungleicher Länge, die B-Fassung nur 17. In seiner noch maßgeblichen Erstausgabe ging Svend Grundtvig davon aus, dass die Grimildballade ein seit dem hohen Mittelalter überliefertes Volkslied ist und dass solche Lieder grundsätzlich als Vierzeiler konzipiert sind. Deshalb zerspaltete er die beiden Fassungen in bzw. 43 und 33 Strophen und nahm nach persönlichem Gutbefinden einige Umstellungen vor, um den mutmaßlichen Urfassungen näherzukommen. Obwohl die beiden vorliegenden Fassungen heute in treuem Abdruck vorliegen (Andersen 2007, 91–96), verweist dieses Portal aus praktischen Gründen auf Grundtvigs eigensinnige Edition.
  • Nach der B-Fassung nahm Vedel die Arbeit an der Grimildballade wieder auf, verbesserte die beiden Fassungen formal (Ab, Bb) und gab sie 1591 zusammen mit einer neuen Fassung ohne handschriftliche Vorlage (C) heraus. Die drei Druckfassungen bestehen durchgängig aus Vierzeilern mit mehrheitlich reinen Reimen. Sie wurden in chronologisch umgekehrter Reihenfolge abgedruckt, zunächst die jüngste (C), dann die zweitjüngste (Bb), schließlich die textgenealogisch älteste (Ab). Den drei Fassungen mit bzw. 43, 41 und 37 Strophen waren eine dänische Prosaeinleitung und ein lateinisches Huldigungsgedicht in drei Disticha an die Insel Huena vorangestellt.

Das Hundertballadenbuch (1591)

Titelblatt

  • Die Druckfassungen erschienen in einer Sammlung von 100 Balladen, die der Königin Sophie von Mecklenburg gewidmet war. Diese Sammlung trug den vollständigen Titel It Hundrede vduaalde Danske Viser, om allehaande merckelige Krigs Bedrifft, oc anden seldsom Euentyr, som sig her vdi Riget, ved gamle Kemper, naffnkundige Konger oc ellers forneme Personer begiffuet haffuer, aff arilds Tid indtil denne neruærendis Dag (‘Hundert ausgewählte dänische Lieder von allerlei bemerkenswerten Kriegstaten und anderen seltsamen Abenteuern, die sich in diesem Reich durch alte Kämpen, ruhmvolle Könige und andere vornehme Personen zugetragen haben, seit der grauen Urzeit bis zum heutigen Tag’). Die Sammlung erfuhr mindestens zwölf Auflagen bis 1671 und wurde 1695 von Peder Pedersen Syv um weitere 100 Lieder erweitert. In ihrer ursprünglichen Form ist sie unter dem Kurztitel Hundertballadenbuch bekannt. Dieser Druck gilt der erste Klassiker der dänischen Nationalliteratur. Vor 1591 besaßen die Dänen kein muttersprachliches Werk von Bedeutung. In den etwa 380 Jahren zwischen Saxos Gesta Danorum und Vedels Hundertballadenbuch begrenzte sich die lokale Textproduktion fast ausschließlich auf die Gesetzschreibung. Die Aufzeichnung der Landschaftsgesetze begann im 13. Jahrhundert und setzte sich bis zum Ende des Mittelalters fort. Wegen der Armut der frühen dänischen Nationalliteratur kommen sowohl Saxo als auch Vedel besonders große Bedeutung zu. Der Herausgeber des Hundertballadenbuchs war sich dessen bewusst und verstand sich in vieler Hinsicht als Saxos direkter Nachfolger, zunächst als Historiker, aber auch als Schöpfer und Träger der Nationalliteratur.
  • Die Gesta Danorum erzählt wie das Hundertballadenbuch die Geschichte Dänemarks seit der legendären Begründung der Monarchie durch König Dan I. Dieser Stammvater schaffte rund 30 Generationen vor Christus die Republik ab und benannte sein Volk und sein Land nach sich selbst. Beide Werke beginnen mit einer sagenhaften Einleitung, die in der Gesta Danorum den neun ersten der 16 Bücher entsprechen, im Hundertballadenbuch dem ersten der drei Teile, der 26 Heldenlieder umfasst. Während Saxo in den letzten sieben Büchern von den historischen Königen seit Harald Blauzahn (†987) berichtet, d.h. den letzten Jahrhunderten vor seiner eigenen Gegenwart, erzählt Vedel im zweiten historischen Teil des Hundertballadenbuchs von der Zeit, die ihn selbst von Saxo trennt, und macht auf diese Weise sein Werk zu einer Fortsetzung der Gesta Danorum.
  • Um den Wahrheitsgehalt seiner Erzählung zu untermauern, berief sich Saxo auf den mündlichen Bericht eines unbekannten Isländers und auf ebenso unbekannte Runensteine. Er gab außerdem mehrere angeblich einheimische Lieder in lateinischer Übersetzung wieder. Ähnlich berief sich Vedel auf fingierte mündliche und schriftliche Quellen. In der Einleitung der Grimildballade stellte er das Lied als ein uraltes Gedicht vor und verwies auf das 13. Buch der Gesta Danorum, dem zufolge die Geschichte schon im frühen 12. Jahrhundert gesungen wurde. Außerdem berief Vedel sich auf eine Quelle, die als „die Hvenische Chronik“ (den Huenske Chrønicke) bezeichnete. Er gab davon eine ausführliche Zusammenfassung, die den Inhalt der gedruckten Grimildballade bestätigte. In Wirklichkeit ließ er sich nicht nur für die Grimildballade von der Didrikskrönikan anregen, sondern auch für diese Zusammenfassung, hatte aber im Vergleich zu den beiden handschriftlichen Fassungen entscheidende Eingriffe vorgenommen.
  • Die drei Druckfassungen bilden zusammen mit der Prosaeinleitung eine einheitliche Erzählung. Sie ist durch die Verlegung der Nibelungensage auf die Insel Ven im Öresund gekennzeichnet. Sie hieß damals Huen und gehörte Dänemark. 1660 fiel sie endgültig an Schweden und bekam 1959 ihren heutigen Namen als Folge einer schwedischen Rechtschreibungsreform. Die Dänen schreiben noch Hven, obwohl das h seit dem Mittelalter verstummt ist. 2012 beantragten einige Inselbewohner von den schwedischen Behörden die Rückkehr an die herkömmliche Namensform und erregten damit großes Aufsehen. Bei dänischen Irredentisten und schonischen Lokalpatrioten löste der Antrag begeisterte Reaktionen aus. Die heikle Frage nach der offiziellen Schreibung ist noch nicht geklärt. Auf diesem Portal wird bei Hinweisen auf die Insel die seit 1959 offizielle schwedische Schreibung benutzt, bei Hinweisen auf die Chronik das stumme h jedoch erhalten.
  • Über die Verlegung der Sage in sein eigenes Vaterland hinaus vereinheitliche Vedel die Namen der Figuren und beschloss die weibliche Titelfigur nach Saxos Vorbild in Grimild umzubenennen. In der endgültigen Druckfassung fügte er auch nach einer sehr freien Bearbeitung der Didrikskrönikan ein moralisches Ende hinzu, wo die böse Heldin für ihren Verrat an ihren Brüdern bestraft wird. Der Vollstrecker der Rache ist ihr Neffe Rancke, der posthume Sohn ihres Bruders und Erzfeinds. Er wird in der Druckfassung Hogen genannt. Sein Sohn stammt aus Didrikskrönikan, wo er Aldrian heißt und wo er seine Rache gegen Hagens Schwager Attilius (= Attila) richtet. Da Vedel die gedruckte Ballade als das Lied von „Grimildas Verrat gegen ihre Brüder“ konzipierte, ersetzte er den Ehemann durch die Ehefrau und ließ seine weibliche Hauptfigur in einem Goldberg verhungern. So stirbt Attilius in der Didrikskrönikan.

Zusammenfassung der ersten gedruckten Grimildballade

  • C-Fassung: Frau Grimild braut Met. Sie hat viele Ritter zu einem Streit eingeladen, darunter Held Hogen, der sein Leben verlieren wird. Hogen findet einen Fährmann und bietet ihm für die Überfahrt zu Huenilds Land einen Goldring an. Da der Fährmann das Angebot ablehnt und Hogen den Tod weissagt, haut Hogen ihm den Kopf ab und gibt der Witwe den Goldring. Hogen findet ein Meerweib, das ihm gleichfalls den Tod wahrsagt. Er haut auch ihr den Kopf ab und wirft Kopf und Rumpf in den Sund. Am Meeresboden sammelt sich der Körper wieder. Die Herren Grimmer und Germer stoßen das Schiff ab. Da bricht ein Unwetter aus, und die Ruder zerbrechen in Hogens Händen. Mit ihren Schilden paddeln sie an Land. Sie werden von einer schönen Jungfrau empfangen, begeben sich nach Nørborg und rufen den Pförtner. Sie erklären ihm, dass sie aus dem Hauptland kommen. Der Pförtner meldet ihre Ankunft und beschreibt die beiden Gäste. Grimild empfängt ihre Brüder im Burghof und bittet sie in einen Steinsaal, indem sie ihnen Met, Wein und Seidenbetten mit Jungfrauen in Aussicht stellt. Sie verspricht ihren Kriegern Gold, wenn sie Hogen töten. Ein Häuptling nimmt das Angebot an. Folquard eröffnet den Kampf mit einer Eisenstange, erschlägt 15 Feinde und macht eine Brücke aus den Erschlagenen. Hogen rutscht auf Häuten auf, die auf Erbsen liegen. Als er aufstehen will, erinnert Grimild ihn an sein Versprechen, er werde nicht aufstehen, wenn er zuvor gefallen sei. Hogen ist so treu, dass er auf den Knien weiter kämpft. In dieser Stellung wird er tödlich verwundet, kann aber drei Gegner umbringen. Dann geht er zum Hammer, um den Schatz seines Vaters zu finden. Er gewinnt Jungfrau Huenilds Liebe und zeugt mit ihr einen Sohn. Rancke rächt den Tod seines Vaters, und Grimild stirbt vor Hunger neben Nidings Schatz. Rancke zieht nach Bern in der Lombardei und stellt bei den dortigen Dänen sein Heldentum unter Beweis. Huenild bleibt zu Hause und verleiht der Insel Huen ihren Namen. Unter Rittern und Helden sind Sagen davon weit verbreitet.

Die Figuren der Druckfassungen und ihre Vorgänger

  • Einige Namensveränderungen lassen sich durch die Zielsprache oder die Geschichte erklären. Bodild (heute Bodil), Gerleff (heute Gerlev), Hogen (heute Haagen oder Håkon), Obbe (heute Ubbe) und Otte (heute Otto) waren geläufige Namen. Graf Guncelin scheint Gunzelin, dem ersten Grafen von Schwerin, zu entsprechen. Er tritt in den Gesta Danorum (XIV,30,4) als Guncellinus auf.
  • Fünf Gestalten führen sprechende Namen, eine sogar zwei. Grimilds Vater, der den Schlüssel zum Goldberg besitzt, wird bald Niding, bald Nøgling genannt. Ein niding war früher ein dänisches Schimpfwort, das einen Schurken und insbesondere einen Geizhals bezeichnete. Das Wort ist mit ‘Neid’ im Sinne von ‘Hass‘ verwandt. Von ihrer Abstammung her war Grimild also prädestiniert, an Goldgier unterzugehen. Ihr Vater wird auch Nøgling genannt, weil er einen Schlüssel zum Goldberg besitzt. Dieses schon zu Vedels Lebzeiten veraltete Wort bedeutete früher ‘Angsthase’, erinnert aber vor allem an nøgle (‘Schlüssel’). Der Stammvater wird also durch seine beiden Namen als ängstlicher und goldgieriger Schlüsselbesitzer dargestellt. Da der Schlüssel am Ende in den Besitz seines Enkelsohns Rancke gelangt, ist Nøglings Geschlecht im übertragenen Sinne als das Schlüsselgeschlecht zu verstehen. In ähnlicher Weise ist der Name des Königs Nibelung im Nibelungenlied (NLB 85f) eng mit dem Hortbesitz verbunden und wird im zweiten Teil des Epos auf die Burgungen übertragen (NLB 1520).
  • Am auffälligsten ist die Umbenennung der handschriftlichen Kremold u.ä. in die Grimild der Druckfassung. Schon Saxo hatte den harten Anfangsbuchstaben verwandelt, damals mit Bezug auf grim (‘grimmig’, ‘grausam’). Im Laufe des Mittelalters hatte dieses Adjektiv einen Sinnwandel erfahren und bedeutete zur Zeit des Hundertballadenbuchs vor allem ‘hässlich’. Die Verräterin der Ballade hatte also nicht nur eine schwarze Seele wie bei Saxo, sondern auch ein abstoßendes Aussehen.
  • Ihre weibliche Gegnerin ist eine Jungfrau, die Vedel Huenild nennt, um ihren Namen auf ihre Heimat Huen übertragen zu können. Wegen des stummen Anfangsbuchstabens wurde der Name der Insel wie das altertümliche Adjektiv væn (‘schön’) ausgesprochen. Ven ist also phonetisch die Insel der Schönheit, und ihre eponyme Stammmutter dementsprechend schön. Brünhild fehlt zwar in der Grimildballade , aber ihr Streit mit Kriemhild wird indirekt auf den Konflikt zwischen Grimild und Huenild übertragen, den Vedel als Frauenkampf zwischen personifizierter Hässlichkeit und personifizierter Schönheit stilisiert.
  • Inhaltlich ist die wichtigste Figur der Grimildballade der männliche Gegner der Titelfigur. Vedel nennt ihn Hogen und gibt ihm einen Habicht als Wappen auf seinem Schild (GBA 23; GBAb 22). Dieser Jagdvogel heißt auf Dänisch høg, mit suffigiertem Artikel sogar høgen. Grimilds Bruder erscheint also bis auf den Umlaut als ‘der Habicht’ in der Druckfassung. Sein Name wird allerdings wie das Adjektiv hoven [’hɔ:wɘn] (‘eingebildet’, ‘hochmütig’) ausgesprochen. Das passt hervorragend zu seinem furchtlosen Charakter, zumal er wegen seiner Verwegenheit zum Fall gebracht wird (GBC 35–38).
  • Die letzte Figur mit einem sprechenden Namen ist Rancke. Er weist nur eine ganz schwache klanghafte Gemeinsamkeit mit seinem Vorgänger Aldrian auf. Das dänische Adjektiv rank bedeutet wie auf Deutsch ‘von hohem, geradem Wuchs’. Dank dieses stolzen Jünglings endet die Ballade mit einer Apotheose: Rancke verlässt Dänemark, zieht zu seinen Landsleuten in der Lombardei und zeichnet sich dort als Krieger aus. Saxo hatte als Erster den Lombarden eine dänische Herkunft zugeschrieben (Gesta Danorum VIII,13,1f), und Vedel hatte diese Hypothese als Grundlage für die dritte Ballade seiner Sammlung benutzt. In der Einleitung dieser Ballade datiert er den Einzug der Dänen in die Lombardei auf das Jahr 568. Diese Datierung verleiht indirekt der Handlung der Grimildballade einen chronologischen Rahmen. Grimild muss zwischen der Begründung des dänischen Königreichs in Norditalien und dessen Untergang 774 gelebt haben.
  • Bodild: Mutter von Grimild, Hogen und Folquard (GBAb 2) < Buodel (GBA 4) < Oda (DK 161, 306)
  • Folquard (immer mit dem nachgestellten Beinamen Spillemand): Bruder von Grimild und Hogen (GB Einleitung; GBC 32f; GBBb 24, 26, 33; GBAb 1, 19, 30, 34, 41; GBAb 17: Folquar) < Falcko (GBB 25); Falckor (GBB 17, 27, 33); Falquor (GBA 3, 19); Falquord (GBA 31) < Folkordh, Folkwardh (Beiname: Speleman) (DK 305, 316, 318, 334f)
  • Geffred: von Hagen ehemals getöteter König (GBBb 20) < Geffred (GBB 21) < vielleicht der historische Dänenkönig Gudfred (†810) 
  • GerleffGermer
  • Germer: Begleiter von Hogen und Folquard (GBC 13) < Gerleff (GBAb 13) < Gierlo (GBA 18) < Gernhold, Geroholt, Geroholth, Goroholdt (DK 161f, 176, 185, 291, 293, 302, 312f, 318–338)
  • Grimild: Schwester von Hogen und Folquard (GB Einleitung; GBC 1, 25, 41; GBBb 1, 16, 18, 27, 32, 37; GBAb 13, 23, 27, 33, 35; GBC 20, 27: Grimmild; GBBb 15: Grimhild) < Kremald (GBB 17, 19, 28); Kremol (GBA 38); Kremold (GBA 1, 24f; GBB 14, 33); Kremoldt (GBB 1); Kremøll (GBA 15); Kremolt (GBA 37)  < Crimilla, Crinilla, Krimildæ, Krimilla, Kremilla (DK 61, 209, 291–338)
  • Grimmer: Begleiter von Hogen und Folquard (GBC 13) < Gynter (GBAb 13) < Gynter (GBA 18) < Gyntar, Gynter, Gynther (DK 161, 291, 306, 313, 316–338)
  • Guncelin: König oder Graf, einer von Grimilds Kriegern (GBAb 25, 33) < Kanselin: König (GBA 27, 36) < vermutlich Aktilius, Atilius, Attilius: Krimillas Ehemann (DK 33–54, 133–136, 222–227, 245–290, 302–341, 366–368)
  • GynterGrimmer
  • Hogen (immer mit dem vorangestellten Beinamen Heldt, Helled, Hellede, Helt): Schwester von Grimild und Folquard (GB Einleitung; GBC 2f, 6, 8, 11, 14f, 28f, 31, 35f, 38; GBBb 3, 5, 7, 10, 16, 26, 28f, 31, 37; GBAb 11f, 6, 8, 14, 17f, 25, 27f) < Haagen (GBA 16); Hagen (GBA 3f, 8. 19f. 25, 27, 29, 32f; GBB 1, 5, 7, 9, 17, 27, 29f, 32); Hogen (GBA 10) (Beiname: Helle, Helled, Hellet, Helli, Hille) < Hagæn, Hagen, Haghæn, Haghen (Beiname: hellit, helte) (DK 61, 174, 185, 199f, 201, 2012, 224f, 293–339, 367)
  • Huenild: Beischläferin von Hogen, Mutter von Rancke (GB Einleitung; GBC 5, 9, 40) <  Märeth (DK 339)
  • Niding: Vater von Grimild (GB Einleitung; GBC 41; GB Einleitung: Nøgling) < Aldrian: Krimillas Vater (DK 161, 260); Nyfflinga, Nyfflinga, Nyflinga: Krimillas Geschlecht (DK 305–368)
  • Nøgling → Niding
  • Obbe (immer mit dem nachgestellten Beinamen Iern): junger Mann, einer von Grimilds Kriegern (GBAb 38, 40) < Obbe (Beiname: Iarn, Iern) (GBA 42f) < vielleicht Wolfhart von Garte (RD 276, 599) oder Ullf von Jarn (andere handschriftliche Ballade)
  • Ottelin: von Hagen ehemals getöteter König (GBBb 20) < Otte (gefolgt vom unverständlichen Wort lin) (GBB 21) < vielleicht einer der deutschen Ottonen
  • Rancke: Sohn von Hogen und Huenild (GB Einleitung; GBC 41) < Aldrian (DK 339, 365–368)
  • Sigfred (mit dem nachgestellten Beinamen Horn): Grimilds erster Ehemann (GB Einleitung; GBBb 19) < Segfred (GBB 20); Seifrid (GBA 26) < Sigiord, Sigord, Sigorder, Sigordh, Sigorth, Sygor, Sygorth (DK 55f, 152–160, 178, 184–191, 204–212, 291–296, 303, 316–338); Seyfrit (R1  3 et passim)

Das Alter der Grimildballade

  • Das Alter der dänischen Balladentradition ist eine umstrittene Frage. Der Nationalromantiker Svend Grundtvig, der für die Mündlichkeitstheorien der Brüder Grimm schwärmte, stellte sich vor, dass die ersten mündlichen Balladen schon im 11. Jahrhundert vom einfachen Volk gesungen wurden. Deshalb definierte er die Balladen, die er nach erheblich jüngeren Adelshandschriften herausgab, als „Volkslieder“ (folkeviser). Heute neigt die Forschung zu einer späteren Datierung, etwa im 13. Jahrhundert, hält aber an der Vorstellung fest, dass das ungebildete Volk schon im Mittelalter begann, Lieder zu dichten und zu singen, die hauptsächlich von Rittern handeln, und dass diese Lieder mehrere Jahrhunderte hindurch mündlich überliefert wurden. Der obligatorische dänische Literaturkanon beginnt mit zwei Ritterballaden, die 2004 in einer ministeriellen Bekanntmachung als Volkslieder definiert wurden und im Schulunterricht als solche studiert werden sollen.
  • Tatsache ist, dass die ältesten erhaltenen Balladenaufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammen. Vor dem Erscheinen des Hundertballadenbuchs sind nur neun Liederbücher erhalten. Drei davon gehörten Vedel, die übrigen entstanden in Adelskreisen, z.B. das zweitälteste Buch mit 35 eigenhändigen Aufzeichnungen des Aristokraten Jens Bille (1531–1575) aus den Jahren 1555–1559. Er war Sohn von Claus Bille (um 1490–1558), dem ehemaligen Statthalter Stockholms nach dem Blutbad 1520, und Onkel mütterlicherseits des weltberühmten Astronomen Tycho Brahe (1546–1601). Eine von Jens Billes Balladen berichtet von Didriks Drachenkampf. Sie wurde 1555 nach der Didrikskrönikan gedichtet , nach 1575 in drei Fassungen von Vedels Sekretären abgeschrieben und 1591 schließlich im Hundertballadenbuch gedruckt (Grundtvig 1853). Das bedeutet, dass eine Handschrift der Didrikskrönikan sich 1555 in Dänemark befand und dass sie um 1575, wohl kurz nach Jens Billes Tod, in Vedels Besitz gelangte. Vielleicht hatte der Vater des aristokratischen Balladendichters eine Handschrift als Kriegsbeute aus Stockholm mitgenommen. In der schwedischen Hauptstadt war nicht nur die Didrikskrönikan entstanden. Die beiden erhaltenen Abschriften befinden heute noch dort.
  • Die Grimildballade wurde 1811 von Wilhelm Grimm mit dem Lied identifiziert, das ein sächsischer Sänger 1131 dem Herzog Knud vorgesungen haben soll. An dieser Auffassung hielt Svend Grundtvig fest und meinte noch 1882, nur ein Jahr vor seinem Tod, das Lied sei kurz nach 1131 ins Dänische übersetzt worden und habe sich 400 Jahre im Volksmund erhalten, bis es aufgezeichnet wurde. Erst 2007 wurde diese Vermutung ernsthaft in Frage gestellt. Nach einer neuen Hypothese dichtete Vedel die Ballade nach der Didrikskrönikan, um das von Saxo erwähnte Lied wieder ins Leben zu rufen. Die Sage verlegte der Jütländer absichtlich nach Ven als Huldigung an seinen Freund Tycho Brahe, der 1576 diese Insel als lebenslanges Lehen erhalten hatte und dort den Sternhimmel beobachtete, vgl. Peter Hvilshøj Andersen: Die Nibelungen zogen nach Dänemark, Frankfurt/M. 2007 (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 48), besonders S. 159–211.

Anders Sørensen Vedel und Tycho Brahe

  • Anders Sørensen Vedel war vier Jahre älter als der weltberühmte Astronom. Er wurde 1542 in Vejle in Ostjütland als Sohn eines angesehenen Kaufmanns und Enkelsohn des Bürgermeisters geboren. Er benannte sich später stolz nach seiner Geburtsstadt. Vedel ist eine mittelalterliche Schreibung für Vejle. 1562 begleitete er als Hofmeister den jungen Adligen Tycho nach Leipzig und Wittenberg und schloss eine dauerhafte Freundschaft mit ihm. 1568 wurde Vedel Prediger am Kopenhagener Schloss und behielt dieses Amt bis 1581. Dann heiratete er die Tochter des Bischofs von Ribe und zog sich nach Jütland zurück. Er verbrachte den Rest seines Lebens in seinem Haus in Ribe, das er Liliebierget (‘Lilienberg’) nannte. Mit einer Druckerei, die er zeitweilig in seinem Haus eingerichtet hatte, gab er selbst das Hundertballadenbuch heraus. Er ließ sich von vielen Gehilfen umgeben und gestaltete seinen bescheidenen Hof nach dem Vorbild seines adligen Freunds. In Dänemark sollte Liliebierget das literarische Gegenstück zum wissenschaftlichen Forschungszentrum auf Tychos Schloss Uraniborg sein.

Uraniborg in Tychos eigener Darstellung (Mechanica 1598)

  • Vedel begann seine literarische Karriere in Kopenhagen mit einer dänischen Übersetzung der Gesta Danorum. Sie erschien 1575 und brachte den Jütländer in direkte Verbindung mit der Nibelungensage. Er übersetzte die Saxo-Passage mit großer Treue und beschrieb die Warnung des Sängers als eine Ballade von Frau Gremild. In einer Anmerkung verwies er auf den englischen Benediktinermönch Robert Elgensis, der kurz nach dem Mord am Herzog eine Vita Canuti ducis in drei Büchern verfasst hatte, um die Heiligsprechung des Ermordeten zu befördern. Die einzig bekannte Handschrift des Werks befand sich früher in London und ging spätestens 1731 zugrunde. Wir kennen nur den Inhalt aus einem von Vedel angefertigten Auszug. In seiner Saxo-Übersetzung erklärt der Jütländer, dass der Sänger Siuord hieß. Um 1170 diente die Vita Canuti ducis als Vorlage für eine kürzere Lebensbeschreibung des Herzogs, die als die Vita Altera Kanuti ducis bekannt ist. Hier ist der Sänger anonym geworden und bezieht sich mit keinem Wort auf die Nibelungensage. Das war vermutlich auch nicht der Fall in der älteren Vita. Nur die jüngere Vita war Saxo bekannt, als er kurz nach der Jahrhundertwende die Gesta Danorum vollendete. Er ist mit anderen Worten ein Lügner oder eher ein Dichter, wenn er behauptet, dass das Lied schon 1131 gesungen wurde. Ganz im Gegenteil hat er selbst nach der Entstehung des Nibelungenlieds in Österreich das Lied des anonymen Sängers mit symbolischem Inhalt gefüllt. Der Umstand, dass er den Sänger zu einem Namensbruder machte, dürfte als symbolische Selbstbiographie gemeint sein. Saxo bedeutet ‘Sachse’ oder ‘Deutscher’ und soll nicht unbedingt als Männername verstanden werden. Vieles spricht dafür, dass der Vater der dänischen Literatur und Historiographie aus dem heutigen Deutschland stammte, vgl. Peter Andersen Vinilandicus: Nordens Gotiske Storhedstid, Odense 2012, S. 29f, 513f.
  • Mit seiner Saxo-Übersetzung begann Vedel eine Erfolgskarriere und bekam den Auftrag, eine Fortsetzung der Gesta Danorum zu schreiben. Zu diesem Zweck unternahm er mehrere Reisen und sammelte eine reiche Bibliothek. Mitte Juni 1586 traf er auf dem Weg nach Schonen für zwei Wochen auf Ven ein. Dort hielt sein Freund seit zehn Jahren einen Hof, der mit demjenigen des Königs Friedrich II. rivalisierte. Nach einem bösen Gerücht war Astronom auch auf einem ganz anderen Gebiet im Wettbewerb mit seinem offiziellen Gönner, und zwar als Liebhaber der jungen Königin Sophie. Der junge Kronprinz Christian, der am 12. April 1577, ungefähr eine Schwangerschaftsperiode nach der Begründung von Uraniborg am 9. August 1576, auf die Welt gekommen war, galt im Volksmund als der leibliche Sohn des Astronomen.
  • Das Gerücht verstärkte sich nach Vedels Besuch auf Ven, denn am 27. Juni traf die Königin ohne die Begleitung ihres Mannes auf der Insel ein. Sie verbrachte zwei Tage und Nächte auf Uraniborg zusammen mit Vedel und Tycho. Der Aufenthalt wird vom meteorologischen Tagebuch des Astronomen und von Vedel im Vorwort des Hundertballadenbuchs bestätigt. Dem Historiker zufolge interessierte sich die Königin nur für die astronomischen Instrumente ihres Wirts und war wegen eines plötzlichen Sturms zu einem verlängerten Aufenthalt gezwungen worden. Auf Uraniborg kam das Gespräch auf Vedels Liedersammlungen, und er versprach der Königin eine Reinschrift. Durch die Widmung des Hundertballadenbuchs an die Königin löste er fünf Jahre später sein Versprechen ein. Das Prunkstück der Sammlung war die Grimildballade, die als einziges Lied in drei Fassungen gedruckt wurde.
  • Die Verlegung der Nibelungensage auf Ven war nicht nur eine Huldigung an Tycho, sondern hing auch mit dem Treffen fünf Jahre früher zusammen, dem unmittelbaren Anlass zur Veröffentlichung der Lieder. Die Ballade scheint jedoch nicht als Schlüsselerzählung konzipiert zu sein. Im lateinischen Huldigungsgedicht wird Tycho nur als Nidings symbolischer Nachfolger verherrlicht: In Huenam Insulam: Quæ Nidingi opibus quondam famosa fuisti / Huena, Giganteis dives alumna viris. / Nunc tu Brahæi Herois celeberrima scriptis, / Es coelo ac superis æquiparata Diis, / Felix: hoc vere est mutare auro ærea dona, / Chaonias glandes linquere, farre frui. A.S.V. (‘An die Insel Ven. Einst verdanktest Du Deinen Ruhm dem Schatze Nidings, Ven, üppige Nährmutter für riesenhafte Männner. Heute bist Du dank der Schriften des Braheschen Helden weltberühmt, dem Himmel und den hohen Göttern gleich und glücklich. Das ist wahrlich die eisernen Gaben in Gold verwandeln, Chaoniens Eicheln liegen lassen, den Weizen genießen. Anders Sørensen Vedel.’) Vedel lobt seinen Freund dafür, dass er im Gegensatz zu seinem sagenhaften Vorgänger keinen Schatz geerbt, sondern selbst Gold hervorgebracht hat. Die Zeit vor Tychos Ankunft vergleicht der Dichter mit der primitiven Urzeit, in welcher die Menschheit laut Vergil (Georgica I,8) von Eicheln lebte. Wenn Vedel dafür gerade den Weizen (far) der Insel verherrlicht, spielt er diskret auf die jütländische Aussprache dieses Getreides an. In der Standardsprache hieß ‘Weizen’ mit suffigiertem Artikel ‘hueden’, aber die Jütländer ließen das intervokalische d weg, so dass ‘der Weizen’ phonetisch mit dem Inselnamen zusammenfiel. Dieses Gedicht ist das einzige im Hundertballadenbuch, das eine Unterzeichnung trägt. Es ist auch das einzige, das nach Tychos endgültigem Abschied von Dänemark für mehr als drei Jahrhunderte der Zensur unterlag. Erst in der Neuausgabe von 1926, die auf Vedels eigener Erstausgabe beruhte, wurde das lateinische Gedicht wieder zusammen mit den 100 dänischen Balladen abgedruckt. In den rund 20 Neuauflagen der Zwischenzeit fehlen die drei Disticha zwischen der Einleitung und der ersten Druckfassung, z.B. in den Ausgaben von 1619 und 1739.
  • Die Unterdrückung des Huldigungsgedichts hing mit dem historischen Kontext zusammen. Seit 1576 fungierte der Astronom als symbolischer König. Auf Ven hatte er seinen Hof, lebte in Saus und Braus und empfing sogar die unbegleitete Königin auf seinem Schloss. Nach dem Besuch vom Juni 1586 begann die Gesundheit des offiziellen Königs sich rasch zu verschlechtern, und am 4. April 1588 erlag er einer unbekannten Krankheit in einem Alter von 53 Jahren. Da er schon im Volksmund als Hahnrei galt, gerieten seine Frau und ihr vermeintlicher Liebhaber unter den Verdacht, den ersten Königsmord seit mehr als 300 Jahren begangen zu haben. 1286 war Erik V. Klipping von unbekannten Verschwörern ermordet worden, aber seither waren alle Könige eines natürlichen und unverdächtigen Todes gestorben.
  • In einer Trauerrede, die er fern von der Hauptstadt hielt, beschrieb Vedel den Lebenswandel des Verstorbenen und bedauerte dessen Trinksucht. Hätte der König auf „den allgemein schädlichen Trank“ (den almindelig skadelig drick) verzichtet, so hätte er „manchen guten Tag länger“ (mangen god dag lenger) leben können (Vedel 1588). Da Friedrich II. tatsächlich Alkoholiker gewesen war, fand diese Diagnose ohne Widerspruch Eingang in die Geschichtsbücher und wurde erst im 20. Jahrhundert bezweifelt. Neulich wurde die Hypothese aufgestellt, dass der König vielleicht tatsächlich von der Königin mit der Hilfe ihres Liebhabers vergiftet wurde, vgl. Andersen 2009.
  • Vedel kann Komplize gewesen sein und scheint seinen verdächtigen Freund Tycho nicht nur in der Trauerrede durch die harmlose Diagnose verteidigt zu haben. Auch im Hundertballadenbuch, dass der Jütländer nur drei Jahre nach dem aufsehenerregenden Todesfall der ebenso verdächtigen Witwe widmete, ergreift er die Partei des vermeintlichen Liebespaars. Hauptstück des ersten Teils der Sammlung ist die Grimildballade, die sozusagen am Tatort spielt. Zumindest entstand die Mordverschwörung nach dem bösen Gerücht auf Ven. Der Hauptteil der Balladensammlung ist der zweite Teil, der vom dänischen Mittelalter handelt. Ein ganzer Zyklus ist dem Königsmord von 1286 gewidmet. Nach dem Verbrechen wurden einige Adlige verdächtigt und mussten fliehen. Einer von ihnen war der Marschall Stig Andersen. Im Hundertballadenbuch wird er unter dem Namen Marsk Stig als Opfer eines Justizfehlers beschrieben, der ermordete König dagegen als Gewalttäter und Sexualverbrecher angeprangert. Vedels Zeitgenossen haben zwangsläufig eine Parallele zur Gegenwart gezogen. 2004 erkannten die Väter des dänischen Literaturkanons dagegen nur harmloses Mittelalter in diesem Zyklus und empfahl die Ballade vom Mord an Erik V. Klipping im Geschichtsunterricht zu studieren.
  • Drei Jahre nach der Veröffentlichung des Hundertballadenbuchs wurde die Königin nach einer Auseinandersetzung mit ihrem minderjährigen Sohn Christian, dem Senat und dem Statthalter der Herzogtümer Heinrich Rantzau vom Hof verbannt und auf ihr Leibgedinge, Schloss Nykøbing auf der entfernten Insel Falster, geschickt. Hier verbrachte sie den Rest ihrer Tage, ohne jemals Tycho wiederzusehen. Ein Jahr nach der Verbannung verlor Vedel die Gunst des Senats und musste alle seine historischen Büchersammlungen an den Geschichtsprofessor Niels Krag abgeben, der kurz danach zum offiziellen Historiographen ernannt wurde. Am 30. August 1596 wurde der 19-jährige Kronprinz Christian endlich zum König gekrönt. Unmittelbar nach der Thronbesteigung wurde ein Prozess gegen Tycho angestrengt, und Ende Juni 1597 verließ der Astronom für immer das Land seiner Väter und sprach fortan von Deutschland als seinem neuen Vaterland: Ergo ingrata vale mea patria patria iam sit, quam mihi clementer, Magne Rudolphe, dabis (‘Adieu, Du undankbares Vaterland, mein Vaterland sei dasjenige, das Du, großer Rudolf, mir großzügig schenken wirst’) (Böhmen 1599).
  • In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das dänische Imperium nach einer kontinuierlichen Reihe von Militärniederlagen rund 90% seines Territoriums verloren (1645: Gotland, Halland, Saaremaa; 1660: Blekinge, Schonen, Ven; 1815: Norwegen; 1864: Holstein, Schleswig). Die Großmacht des Mittelalters war zu einem bedeutungslosen Kleinstaat eingeschrumpft. Dagegen hatte die Zeit alle Gerüchte von der Untreue der Königin und dem möglichen Königmord von 1588 verwischt. Nostalgische Romantiker erinnerten sich nur noch an das Hundertballadenbuch ohne Huldigungsgedicht. Als Geburtsstunde der dänischen Nationalliteratur erfand ein träumerischer Maler eine erneute Begegnung zwischen den drei Protagonisten Vedel, Tycho und Sophie im Sommer 1591. Auf einem feenhaften Gemälde ließ er den Historiker (links) der Königin (rechts) sein Buch vor Uraniborg und in Anwesenheit des Astronomen (Mitte) überreichen:Hansen1882

Henrik Hansen, 1882 (Frederiksborg Slot)