Sjurdlied

Das Sjurdlied (SL) ist ein färöischer Zyklus aus drei Liedern, die sich um den Drachentöter Sjurd ranken. Sie wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgezeichnet und gedruckt und erlangten nahezu einen Status als färöische Nationalhymne, da sie die ersten gedruckten Texte der Inselgruppe überhaupt waren und deshalb entscheidend zur Fixierung der lokalen Schriftsprache beitrugen.

Kurzbeschreibung

Überlieferung und Edition

  • Färöisch gehört zu den nordgermanischen Sprachen und ist mit Isländisch relativ nah verwandt. Es wird schätzungsweise von rund 50.000 Menschen gesprochen und ist damit eine der kleinsten Sprachen Europas. Im Unterschied zur größeren Nachbarinsel Island hatten die Färöer keine eigene Literatur im Mittelalter und besaßen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts keine Schriftsprache. Abgesehen von sporadischen Textzeugnissen sind die ersten Aufzeichnungen in der Lokalsprache Balladen. 1639 wurden einige Strophen an den dänischen Sprachforscher Ole Worm geschickt. Unmittelbarer Anlass dazu war wohl der Riesenerfolg der dänischen Ballademode. Das zuerst 1591 erschienene Hundertballadenbuch hat schon damals mindestens acht Auflagen erfahren.
  • Worms färöische Originalaufzeichnung ging vermutlich beim Kopenhagener Brand von 1728 verloren, wurde jedoch vorher um 1700 abgeschrieben und in eine heterogene Sammlung eingegliedert, vielleicht auf Veranlassung des Balladenliebhabers Peder Syv. Diese Sammlung kam 1745 an die Bibliothek der Universität von Kopenhagen und 1938 an die Königliche Bibliothek, wo sie sich heute befindet (Rostgård 21,4°). 1780 veröffentlichte der Historiker Peter Frederik Suhm weite Auszüge aus der Sammlung, allerdings nicht die färöischen Strophen. Er interessierte sich sehr für die Herkunft der nordischen Völker und war mit dem gelehrten Färinger Jens Christian Svabo befreundet. 1781 unternahm dieser Freund eine längere Reise zu seinen Geburtsinseln, sammelte bei diesem Aufenthalt Material zu einem färöischen Wörterbuch und zeichnete 52 lokale Lieder auf, doch keine einzige Strophe des Sjurdlieds. Es gelang nicht Svabo, das Interesse eines dänischen Verlegers an seinen Aufzeichnungen zu wecken. An seinem Lebensabend kehrte er verarmt zu den Färöern zurück und starb dort 1824 in einem Alter von 78 Jahren. Seine Liedersammlung blieb unediert in Kopenhagen liegen. Er gilt als einer der Begründer der färöischen Nationalsprache und wurde 2010 mit einer Briefmarkenreihe gewürdigt.

  • Im Sommer 1817 unternahm der jütländische Theologe und Botaniker Hans Christian Lyngbye eine Reise zu den Färöern, um Algen zu beobachten. Vor Ort traf er den alten Svabo und erwarb durch ihn einige Grundkenntnisse der Lokalsprache. Er traf auch den Färinger Johann Henrik Schrøter, der nach einem in Kopenhagen abgeschlossenem Theologiestudium auf Suðuroy, der südlichsten der färöischen Inseln, zum Pastor ernannt worden war. Zu diesem Zeitpunkt war die Nibelungensage höchste Mode. Bis auf die handschriftlichen Fassungen der Grimildballade und die Hvenische Chronik waren alle Varianten schon längst im Druck erschienen, die meisten auch in moderner Übersetzung. Wilhelm Grimm und Friedrich Heinrich von der Hagen wetteiferten damals, um die alten skandinavischen Nibelungentexte ins Deutsche zu übertragen: Grimildballade (von der Hagen 1810, Grimm 1811), Thidrekssaga (von der Hagen 1814), Lieder-Edda (Grimm 1815), Völsungasaga (von der Hagen 1815).
  • Im Herbst 1817 brachte der Botaniker eine Liederaufzeichnung nach Kopenhagen mit. Sie ist nicht erhalten und nur durch zwei zeitgenössische Beschreibungen bekannt, die 1818 in Kopenhagen gedruckt wurden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Dänemark befassten sich die Gelehrten intensiv mit der Nibelungensage. 1817 gab Peter Erasmus Müller, Theologieprofessor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, der Gesellschaft für vaterländische Geschichte und der Arnamagnäanischen Kommission, den ersten Band seiner Sagabibliothek heraus und beschrieb hier die altnordische Literatur, allerdings noch kein einziges Zeugnis der Nibelungensage. Nach seiner Heimkehr suchte Lyngbye diesen Professor mit der heute unauffindbaren Liederaufzeichnung auf, und sie wurde sofort ausführlich beschrieben, und zwar im zweiten Band der Sagabibliothek, die hauptsächlich der Nibelungensage gewidmet war (1818, II, S. 420–430). Laut dem Theologieprofessor lebte die „Erinnerung an Sigurd“ (Sigurds Minne) noch in färöischen Liedern, die „bei festlichen Gelegenheiten aus allen Mündern“ (ved festlige Lag fra alle Munde) ertönten (S. 420). Lyngbyes Aufzeichnung sei leider unvollständig und enthalte nur den Anfang, zwei Stücke mit insgesamt 164 Strophen. Ein Greis, der die Lieder von seiner Großmutter gelernt hatte, habe sie Lyngbye diktiert. Letzterer habe die Aufzeichnung an Pastor Schrøter zurückgeschickt, damit er das Fehlende ergänze (S. 423). Danach lieferte Müller eine ausführliche Zusammenfassung der beiden ersten Stücke über den Schmied Regin und Sjurds Begegnung mit Brinhild, auch über das dritte Stück von Gudruns Rache und sogar über ein viertes Stück, das von Högnis Sohn berichtet. Der Professor diskutierte dabei die Verwandtschaft mit und die Abweichungen von der Völsungasaga und der Thidrekssaga, die er am Anfang des zweiten Bands beschrieben hatte (S. 423–430). Ungefähr zeitgleich mit dem zweiten Band der Sagabibliothek oder vielleicht kurz vorher erschien der zweite Band der ersten wissenschaftlichen Ausgabe der Lieder-Edda. Sie wurde von der Arnamagnäanischen Kommission besorgt, der Müller angehörte. In einer kurzen lateinischen Anmerkung fand Lyngbyes Aufzeichnung Erwähnung (1818, II, S. xxxiii). Das Lied wurde hier als fünfteilig beschrieben. Laut der Kommission enthielten die beiden ersten Teile 162 Strophen, die beiden folgenden Teile, sowie der Anfang des fünften, seien in Prosa verfasst. Vom Ende des letzten Teils seien jedoch 43 Strophen erhalten. Sowohl die Kommission als auch Müller verwiesen auf Svabos ungedruckte Liedersammlung.
  • Nach Empfang von Lyngbyes Brief und der Veröffentlichung der beiden wissenschaftlichen Bücher entstand ein ebenso reger wie plötzlicher Wettbewerb auf der nordatlantischen Inselgruppe. Schon 1818 gelang es Pastor Schrøter auf seiner entlegenen Südinsel ein vollständiges Lied in 643 Strophen ausfindig zu machen. Diese Aufzeichnung (Aa) wurde nach Dänemark geschickt und diente als Vorlage für das erste gedruckte Buch in färöischer Sprache. Es wurde 1822 von Lyngbye mit synoptischer dänischer Parallelübersetzung und einer langen theoretischen Einleitung von Professor Müller herausgegeben. Im Vergleich zu Schrøters Aufzeichnung war die Druckfassung leicht gekürzt (Ab). Es umfasste 572 Strophen in vier Liedern von Regin (I), Brynhild (II), Högni (III) und Högnis Sohn Aldrian (IV). Zwischen die beiden ersten Lieder hatte Lyngbye ein anderes Lied ohne Bezug auf die Nibelungensage eingeschoben, und auf das vierte Lied folgten weitere Texte, z.B. über Sjurds Tochter Aslaug.
  • Noch vor dem Erscheinen dieser Ausgabe war eine zweite Aufzeichnung desselben Lieds entstanden. 1818 hatte Müller einen Brief an seinen Landsmann Peter Mathiesen Hentze geschickt, der sich auf den Färöern niedergelassen hatte und damals gerade zum Amtspropst auf Sandoy, der fünfgrößten Insel, befördert worden war. Hentze stellte den jungen Bauern und Fährmann Johann Clemensen (1794–1869) ein und bat ihn, das vollständige Sjurdlied aufzuspüren. Auf Sandoy zeichnete Clemensen bald 18 Lieder auf und schickte seine Abschrift nach Kopenhagen. Sie entsprach nicht den dänischen Erwartungen, 1822 wurden nur einige Strophen davon für den Druck verwertet. Clemensen gab jedoch nicht auf und stellte bis 1831 eine Sammlung von nicht weniger als 92 Liedern zusammen, das sog. Sandoyarbók. Es befindet sich heute in der färöischen Landesbibliothek (Føroya Landsbókasavn) von Tórshavn (DFS 68,4°). Diese Sammlung enthält als 11. Stück eine Fassung des Sjurdlieds in drei Teilen mit insgesamt 456 Strophen (Ba). Clemensen hatte nach einiger Aussage diesen Text von Daniel Joensen von Skúvoy bekommen, einer kleinen Nachbarinsel von Sandoy, die heute nur 34 Einwohner beherbergt. Clemensens Version stimmt weitgehend mit Schrøters Text überein, enthält aber auch viele Abweichungen.
  • In den folgenden drei Jahrzehnten stand die Druckfassung im Wettbewerb mit dem unedierten Sandoyarbók. Diese beiden Versionen dienten zwischen 1830 und 1850 als Vorlage für sechs weitere vollständige Abschriften (Bb, Ca, Cb, D, E, G) und eine unvollständige Abschrift (F). Zwei Nachdichter hielten sich eher an die Druckfassung (Bd, D), zwei andere eher an das Sandoyarbók (Cb, G). In einem Fall handelte es sich einfach um eine treue Abschrift der dritten Generationen (Ca). Alle Fassungen sind von beiden Überlieferungszweigen kontaminiert. Erst um die Mitte des Jahrhunderts setzte der Philologe Venceslus Ulricus Hammershaimb dem färöischen „Sängerkrieg“ ein Ende und versöhnte mit einer Mischfassung die beiden Lager. Er war auf den Färöern geboren, aber in jungem Alter nach Kopenhagen gekommen, wo er seiner Muttersprache weiterhin mit seinen Eltern pflegte. 1846 legte er in einem theoretischen Werk die färöische Schriftsprache fest und verbrachte dann ein Jahr in seiner Heimat. Während dieses Aufenthalts entstand die letzte Aufzeichnung des Sjurdlieds, die 477 Strophen umfasst (E). Hammershaimb zog die beiden letzten Stücke zusammen und begnügte sich deshalb mit drei Teilen wie Clemensen. Sein Mischtext war ein vernünftiger Kompromiss zwischen Lyngbyes Druckfassung und dem Sandoyarbók und diente 1851 als Grundlage für die zweite Druckfassung (H). Sie setzte sich nicht nur als die maßgebliche Fassung des Sjurdlieds durch, sondern diente auch als orthographischer Maßstab für alle künftigen färöischen Bücher.

V. U. Hammershaimb, Vater der modernen färöischen Schriftsprache

  • Die färöische Liedertradition setzte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fort und ist heute noch lebendig. Zeitgleich mit der Veröffentlichung der dänischen Balladen, die er bei seinem Tod 1883 nicht vollendet hatte, hatte der Volkskundler Svend Grundtvig, Sohn des berühmten Psalmendichters N.F.S. Grundtvig, begonnen, die färöischen Liederaufzeichnungen zu sammeln. Diese Arbeit wurde von seinem Schwager Jørgen Bloch fortgesetzt und führte zu einer siebenbändigen deutschsprachigen Ausgabe, die zwischen 1941 und 1972 unter der Leitung des Färingers Christian Matras, am Anfang in Zusammenarbeit mit dessen Landsmann Hans A. Djurhuus, besorgt wurde. Die Reihe enthält 234 Titel und räumt dem Sjurdlied den vornehmen ersten Platz im ersten Band ein. Dieser Band erschien erst 1951 nach Band 2, 3 und 4.1, gab die handschriftlichen Fassungen in Hammershaimbs normalisierter Rechtschreibung wieder und versah sie mit Siglen. Auf die Wiedergabe von Lyngbyes Druck (Ab) wurde verzichtet.
  • FK = CCF: Føroya Kvæði = Corpus carminum Færoensium, a Sv. Grundtvig et J. Bloch comparatum. Hrsg. von N. Djurhuus und Chr. Matras für Universitets-Jubilæets Danske Samfund. 6 Bde. Kopenhagen: Munksgaard, 1941–1972 [Verzeichnisse: Bd. 7, 1996]. Sjurdlied: FK 1 = CCF 1 = Bd. I (1951), S. 1–214.

Zusammenfassung (H)

Firsti táttur: Regin smiður (‘erstes Lied: Regin Schmied’)

  • Hört Ihr mir Zu, so erzähle ich Euch von mächtigen Königen. Kehrreim: Grani trug das Gold von der Heide. Sjurd schwang das Schwert mit Wut und gewann den Sieg über den Wurm, Grani trug das Gold von der Heide (1). Sigmund, Sohn des Jarls, und seine Frau Hjördis feiern Weihnachten im hohen Sitz. Da nahen mächtige Feinde. Der König zieht in Krieg, und niemand kehrt heim. Hjördis geht aufs Schlachtfeld zu ihrem verletzten Mann (2–10). Sigmund erklärt ihr, dass Hundings Söhne ihn mit einem vergifteten Schwert tödlich verwundet haben. Sie sei schwanger und solle ihr Kind Sjurd nennen. Der Sohn solle ihn rächen und zum Schmied Regin gehen, um zwei Schwertstücke zusammenzufügen (11–20). Sigmund stirbt, und Hjördis fällt in Ohnmacht. Sie lässt ihn begraben, zieht nach Hause und heiratet König Hjalprek (21–30). Nach neun Monaten gebiert sie einen Sohn und nennt ihn Sjurd. Er wächst auf und übt sich im Kampf mit den Helden des Königs (31–40). Seine Gegner empfehlen ihm, seinen Vater zu rächen, anstatt Gewalt gegen sie zu üben. Er bittet seine Mutter um eine Erklärung, und Hjördis zeigt ihm das blutige Hemd seines Vaters (41–50). Sie gibt ihm auch die Schwertstücke und sagt ihm, er solle zu Regin jenseits des Flusses gehen. Am Wasser findet er das furchtlose Pferd Grani und reitet hinüber (51–60). Regin grüßt ihn willkommen und versucht zehn Nächte lang ein neues Schwert zu schmieden. Sjurd kommt zurück (61–70) und zerbricht das Schwert auf dem Amboss. Regin versucht jetzt dreißig Nächte lang ein gutes Schwert zu schmieden (70–80). Sjurd kommt ein drittes Mal zurück, zerbricht den Amboss mit dem Schwert und nennt es Gram. Regin fordert ihn auf, auf die Glitraheide zu reiten, aber Sjurd will sich zuerst an Hundings Söhnen rächen (81–90). Er fällt die Mörder seines Vaters und reitet dann zusammen mit Regin auf die Glitraheide. Im Wald begegnet er einem einäugigen Greis. Dieser warnt Sjurd vor dem Schmied (91–100) und dem Gift des Wurms, Regins Bruder. Sjurd solle sich in einen Graben legen und von unten her das Untier töten (101–110). Sjurd befolgt den Rat und zerteilt den Wurm. Im Sterben empfiehlt ihm der Wurm, den Verräter Regin zu töten. Der Schmied bittet um das Herz des Wurms, und Sjurd brät es an einem Spieß (111–120). Dabei verbrennt er sich die Hand, schmeckt das Drachenblut und versteht die Vogelsprache. Die Vögel empfehlen ihm, den Braten selbst zu essen. Als Regin sich anschickt, das Drachenblut zu trinken, wird er von Sjurd getötet. Sjurd lädt zweimal zwölf Kisten Gold auf sein Pferd und reitet nach Hause (121–130). Hier will ich dieses Lied beenden und ein zweites anstimmen (131).

Annar táttur: Brinhild (‘zweites Lied: Brinhild’)

  • Ich habe ein Lied gehört, das über uralte Ereignisse aus König Budlis Zeit gedichtet worden ist (1). Einst herrschte ein berühmter König namens Budli. Er hatte eine schöne Tochter Brinhild. Sie überstrahlt angeblich das Licht. Sie schmückt ihr goldenes Haar auf dem Hindarfelsen und weist alle Freier zurück (2–10). Söhne von Königen und Jarlen haben schon vergeblich um sie geworben. Ihrem Vater erklärt sie, sie wolle nur Sjurd, Sigmunds und Hjördis’ Sohn, heiraten. Sie liebe ihn seit neun Wintern, ohne ihn je gesehen zu haben (11–20). Sjurd übertreffe alle anderen Männer, denn er habe auf einmal hundert Heiden gefällt und den Wurm auf der Glitraheide überwunden. In Hunaland sei ihm niemand vergleichbar. Budli solle ihr einen mit Flammen umgebenen Saal bauen lassen, damit sie Sjurd empfangen könne (21–30). Der König erfüllt ihren Wunsch und tritt zu ihr in ihrem Saal (31–40). Er empfiehlt ihr, Gunnar von Jukis Hof zu empfangen, aber sie schweigt, verlässt die Burg ihres Vaters und geht auf den Hildarhügel. Dort treffen sich Grim und Jukis Sohn Högni. Brinhild setzt ihn auf ihren Stuhl und verspricht, nur denjenigen zu heiraten, der den Flammenwall durchreitet. Sjurd träumt, dass er auf Grani durch Feuer reitet (41–50). Beim Erwachen geht er in seinen Kräutergarten, und dort erzählen ihm die Vögel von Brinhild. Er rüstet sich und reitet zum Hindarfelsen (51–60). Unterwegs stößt er auf Grimhild, die ihm ihre Tochter anbietet. Er reitet weiter (61–70). Vor dem Flammenwall ist Grim schon gescheitert. Es gelingt nur Sjurd, hindurchzureiten. Mit seinem Schwert zerspaltet er die Tür zum Eingang des Hügels und sieht Brinhild voll gerüstet im Bett liegen (71–80). Sjurd zerschneidet ihre Brünne und stellt sich vor. Sie begrüßt ihn (81–90). Sie bittet ihn, zu ihrem Vater zu gehen, aber er will keinen guten Rat hören und schläft sofort mit ihr. Da wird Asla empfangen. Er schwört Brinhild Treue, schenkt ihr zwölf Goldringe und bleibt sieben Monate (91–100). Er möchte dann kurzfristig wegreiten. Brinhild warnt ihn vor Jukis zauberkündiger Tochter. Er wiederholt seinen Treueschwur. Sie gibt ihm beim Abschied einen Ring (101–110). Sjurd reitet zu Budlis Hof und bittet den König um Brinhild. Er wahrsagt seinem Gast einen frühzeitigen Tod und eine Heirat mit Gudrun. Sjurd wiederholt erneut seinen Treueschwur (111–120). Er reitet weiter, und im Wald sieht er ein feuerspeiendes Tier. Deshalb verliert er den Weg und kommt zu Jukis Hof. Dort nimmt das Tier Grimhilds Gestalt an (121–130). Sie empfiehlt Sjurd wieder ihre Tochter und bittet Gudrun, im Keller einen Vergessenstrank zu brauen. Ihre Tochter weigert sich zunächst (131–140) und bekommt dafür eine Ohrfeige. Gudrun braut dann den Trank und bietet ihn Sjurd an. Er trinkt und verliert das Gedächtnis. Grimhild bittet ihre Tochter, dem Gast das Bett zu machen (141–150). Sjurd verlobt sich mit Gudrun, und bald wird Hochzeit gehalten. Die Brautleute gehen ins Bett, und Brinhild erfährt es. Sie schwört Rache. Eines Morgens gehen beide Frauen ins Wasser, um sich zu waschen (151–160). Gudrun empfiehlt Brinhild ihren Bruder Gunnar und zeigt ihr den Ring, den sie von Sjurd bekommen hat. Die Frauen beschimpfen sich, und Brinhild droht Sjurd mit Tod (161–170). Brinhild kehrt traurig in ihren Saal zurück. Sjurd besucht sie und entschuldigt sich. Da gebiert Brinhild eine Tochter und bittet Sjurd, das Kind in den Fluss zu tragen. Beide lassen Asla fortfließen (171–180). Jetzt kommt Gunnar zu Brinhild. Sie verspricht ihm ihre Liebe, aber er soll zunächst Sjurd töten. Gunnar fragt, wie er seinen unverwundbaren Schwager töten soll (181–190). Brinhild empfiehlt ihm, Sjurd salziges Essen zu geben und dann in den Wald zu reiten. Sjurd verspricht Brinhild, sich nach dem Waldritt mit ihr zu verloben (191–200). Beim Ausritt prophezeit Budli seiner Tochter Sjurds Tod. Sie bleibt weinend in ihrem Saal zurück (201–210). Im Wald trinken Jukis Söhne oft, während Sjurds Horn daheim geblieben ist. Er steigt aus dem Sattel und geht zu einer Quelle. Da wird er von Gunnar und Högni ermordet (211–220). Auf Granis Rücken bringen sie Sjurds Leiche zurück und legen sie in Gudruns Schoß. Sie schwört Rache (221–230). Ihre Mutter empfiehlt ihr den reichen König Artala aus Hunaland. Gudrun will auf keinen Fall auf ihre Rache verzichten. Hier beende ich mein Lied (231–238).

Triðji táttur: Høgni (‘drittes Lied: Högni’)

  • Gudrun sitzt in Jukis Hof und trauert um ihren verstorbenen Mann. Da kommt König Artala von Hunaland und wirbt um ihre Hand (1–10). In der Hoffnung, Sjurds Tod rächen zu können, nimmt sie den Antrag an (11–20). Nachdem sie in Hunaland einen Sohn bekommen hat, lädt Gudrun ihre vier Brüder ein. Sie heißen Högni, Gunnar, Hjarnar und Gislar. Ihre Mutter Grimhild rät vergeblich von der Ausfahrt ab (21–30). Sie gibt ihren Söhnen einen Runenstab mit. Högni reitet voraus und begegnet einer Meerfrau auf dem Strand. Sie prophezeit ihm, er werde niemals zurückkommen (31–40). Daraufhin haut er sie entzwei. Nun begegnet er einem Wassermann, der ihm eine glückliche Reise wahrsagt. Högni lässt seine Schiffe ausrüsten und sticht in See (41–50). Grimhild kehrt weinend an ihren Hof zurück. Högni fasst zwei Eisenruder an, um selbst zu rudern. Als man Gudrun die Ankunft der Schiffe meldet, geht sie in ihren Kräutergarten und übt Zauberei, so dass ein Unwetter ausbricht. Beide Ruder zerbrechen (51–60). Högni weiß, dass seine Schwester verantwortlich ist. Gudrun schickt dann zwei Adler aufs Meer, so dass das Unwetter sich verschlimmert. Högni wirft den Runenstab ins Meer, und es gelingt ihm, die Wogen zu beschwich­tigen (61–70). Die Brüder gehen an Land und begeben sich in voller Rüstung zum Königshof. Dort werden sie von ihrer Schwester empfangen. Sie betreten die Halle (71–80). Gudrun bittet die Gäste, ihre Waffen abzulegen, aber Högni und Gunnar behalten sie. Gudrun erinnert sie an Sjurds Tod (81–90). Aus dem Keller holt sie einen Trank, den sie selbst gebraut und mit Gift ver­mengt hat, und bietet ihn Högni an. Sein Goldring wird als Warnung rot wie Blut. Der König setzt sich mit den vier Brüdern an den Tisch und trinkt fröhlich mit ihnen (91–100). Gudrun bittet ihren Sohn, Högni ins Gesicht zu schlagen, und er tut es. Högni springt auf und tötet das Kind (101–110). Gudrun geht zu Artala und fordert ihn zur Rache auf. Sie rät ihm, drei Elchhäute vor der Tür des Saals festzunageln. Högni müsse erschöpft über sie rennen (111–120). Högni bittet seine Schwester um freies Geleit für Gislar und Hjarnar, weil sie an Sjurds Tod unschuldig sind. Die Bitte wird abgelehnt. Beide Brüder fallen auf den Häuten hin und stehen nicht mehr auf. Gunnar kämpft sich dann rücklings aus dem Saal (121–130) und erleidet dasselbe Schicksal wie seine Brüder. Högni haut 1200 Mann nieder und springt unversehrt über die Häute (131–140). Er kämpft im Grashof weiter, bis es Nacht wird. Am Morgen rüstet König Artala ein neues Heer von 1200 Mann aus (141–150). Högni verlässt den Königssaal und tötet sie alle neben der Wand. Als Gudrun sieht, dass er unver­letzt ist, schickt sie ihn in einen Wald, östlich des Hildarflusses. Da sieht er Sjurds Leiche, und ein Pferd läuft mit dessen Kopf unter dem Bauch herum (151–160). Die Zunge wirft Högni seine Missetat vor und rät ihm, zurückzureiten. Vor der Halle steht ein neues Heer. Högni mag noch so viele Gegner niederhauen, es strömen immer neue zusammen, denn Gudrun belebt die Gefallenen wieder (161–170). Sie schickt ihren Diener nach der langen Geva, aber diese Frau wird von Högni durch­bohrt. Dann schickt Gudrun ihren Diener nach Tidrik Tatnarson (171–170). Sie verspricht diesem Helden Gold und Silber, wenn er Högni tötet. Tidrik kommt auf einem kohlschwarzen Pferd zurück (181–190). Vor der Burg findet der Zweikampf statt. Högni schlägt seinen Gegner aus dem Sattel, aber Tidrik verwandelt sich in einen Drachen und speit Gift auf Högnis Brünne. Das Gift drängt in das Herz des Helden, der mit Waffen nicht verletzt werden konnte. Zum Hof zurückgekehrt findet der erbleichte Kämpfer König Artala und bittet ihn um eine Jarlstochter für eine Nacht. Der König gewährt die Bitte, obwohl Gudrun ihrem Bruder nur die Tochter eines Schweinehirten geben will (191–200). Mit der Jarlstochter Helvik zeugt Högni einen Sohn und prophezeit ihr, Artala werde in derselben Nacht einen Sohn zeugen. Helvik solle ihren eigenen Sohn Högni nennen. Gudrun werde ihn peinigen. Deshalb solle Helvik Gudruns Kind nehmen, es in ihre eigene Wiege legen und als Letzte zur Tür hinausgehen. Der Sohn solle ihn rächen. Zum Schluss gibt er ihr einen Runengürtel, den sie später ihrem Sohn weiter­geben soll (201–210). Högni stirbt und wird von der Frau in einem Hügel begraben. Nach neun Monaten gebären beide Frauen einen Sohn. Helvik nennt den ihren Högni, Gudrun den anderen Svein. Nach den Wochen­tagen bleibt Helvik als Letzte bei den Neugeborenen und bittet ihre Gegnerin als Erste zur Tür hinausgehen (211–220). Sie selbst vertauscht dann die Kinder in den Wie­gen. Gudrun kommt zurück und schneidet ihrem eigenen Sohn den Kopf ab. Högni wächst dann bei Artala auf. Eines Morgens reitet der Jüngling in den Wald und begegnet östlich des Hildarflusses seiner Mutter. Sie gibt sich zu erkennen, aber Högni misstraut ihr (221–230). Wenn er ihr auf ihre Bitte hin mit einem Messer in den Arm schneidet, brennt es in seinem eigenen Herzen. So wird ihm klar, dass sie die Wahrheit sagt. Sie gibt ihm den Runengürtel, das Schwert seines Vaters und Gold und ermahnt ihn zur Rache. Am Abend erreicht er Artalas Hof, wo er Svein genannt wird. Als er eine Kerze löschen soll, verbrennt er sich, aber achtet nicht auf den Schmerz. Artala fragt ihn, woran er denkt (231–240). Högni wahrsagt seinem Ziehvater, er werde sich trotz seines Reichtums Wasser und Brot wünschen. Artala glaubt ihm nicht. Eines Morgens nimmt Högni Artala und Gudrun mit in den Wald. Sie sollen seine Schätze im Goldberg sehen. Er zeigt ihnen ein Haus, das innen mit Gold belegt ist. Högni lässt Artala und Gudrun hineintreten, schließt die Tür mit seinem Runengürtel ab, so dass keiner von beiden herauskommen kann (241–250). Artala verspricht ihm Gold und Gut, um Wasser und Brot zu haben, aber Högni lässt sie beide zu Tode verhungern. Bei Högnis Rückkehr zum Berg ist der König tot. Högni be­kommt viel Gold, besucht seine Mutter und reitet zum König im Dänenreich (251–254).

Quellen und Alter

  • Es liegt auf der Hand, dass das Sjurdlied mit der isländischen Variante der Nibelungensage verwandt ist. Bei genauerem Hinschauen stellt sich heraus, dass die meisten Motive aus der Völsungasaga entlehnt sind. Zahlreiche Einzelheiten stammen jedoch aus der Thidrekssaga, z.B. das salzige Essen, das den Helden durstig macht (TS 245). Der Mord findet auch wie hier in einem Wald statt und nicht im Bett wie in den isländischen Fassungen. In der Thidrekssaga wird Sigurd allerdings an einem Bach ermordet (TS 246), im Sjurdlied an einer Quelle (II 216f). Für dieses Detail kommen das Nibelungenlied, der Hürnen Seyfrid und die Hvenische Chronik in Frage. Die beiden ersten Texte lagen zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Druck vor, die Hvenische Chronik wurde erst 1818 durch den zweiten Band der Sagabibliothek bekannt. Das dänische Prosamärchen hat besonders gegen Ende auffällige Gemeinsamkeiten mit dem Sjurdlied. Nur in diesen beiden Texten werden zwei neugeborene Söhne in der Wiege getauscht. Ein Einfluss der Grimildballade ist auch stellenweise erkennbar, besonders beim Unwetter. Die Form der gesamten färöischen Balladendichtung ist außerdem mit derjenigen identisch, die Vedel 1591 mit dem Hundertballadenbuch maßgeblich für Dänemark gemacht hatte. Die Strophen sind in beiden Fällen Vierzeiler mit Knittelreim.
  • Das Alter der färöischen Liedertradition ist genau so umstritten wie dasjenige der dänischen Balladen. In beiden Ländern sind nur junge Aufzeichnungen überliefert, in Dänemark seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, auf den Färöern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, wenn wir von den Bruchstücken absehen, die 1639 an Ole Worm geschickt wurden. Nichtsdestotrotz besteht allgemeine Einigkeit darüber, dass die Lieder in beiden Ländern schon im Mittelalter gesungen wurden. In Lyngbyes Ausgabe des Sjurdlieds befasste sich Müller eingehend mit der Herkunft und dem Alter des Texts und zog im allerletzten Absatz seiner langen wissenschaftlichen Einleitung folgende Bilanz: „[Es ist] also sehr wahrscheinlich, dass wir in den färöischen Gesängen über Sigurd Lieder übrig haben, die sich durch ein Jahrtausend mündlich verpflanzt haben.“ (… saaledes meget sandsynligt, at vi i de færøiske Qvæder om Sigurd have Sange tilbage, der gjennem et Aartusinde mundtligen have forplantet sig.) (Lyngbye 1822) Diese Einleitung wurde am 7. Dezember 1821 in Kopenhagen unterzeichnet. Müller dürfte damals an Einhard gedacht haben, der fast genau 1000 Jahre früher erklärt hatte, Karl der Große habe die Aufzeichnung „uralter barbarischer Lieder, in denen die Taten und Kriege früherer Könige besungen werden,“ befohlen (barbara et antiquissima carmina quibus veterum regum actus et bella canebantur) (Vita Karoli Magni 29). Heute datiert die Forschung eher die Entstehung der färöischen Balladen ins späte Mittelalter und überbrückt also immer noch durch Spekulation eine Lücke von mehreren Jahrhunderten zwischen mutmaßlicher Urfassung und überlieferter Aufzeichnung. Die dominierende Meinung ist in jedem Nachschlagewerk zu finden: „Die färöischen Balladen (färöisch: kvæði) gehen teilweise aufs Mittelalter zurück und wurden über die Jahrhunderte mündlich überliefert.“ (Wikipedia, Abruf 20.06.14)
  • Die Rationale Philologie verbietet eine solche Rückdatierung und begnügt sich mit dem Vergleich zwischen den vorliegenden Textzeugnissen. Im Fall des Sjurdlieds lagen alle in Frage kommenden Quellen bei der ältesten nachweisbaren Aufzeichnung im Druck vor. Sie entstand 1818 auf Suðuroy (Aa), denn die Abschrift, die Lyngbye ein Jahr früher von seiner Sommerreise mitgebracht hatte, ist nicht erhalten und nur durch zwei verdächtige Aussagen von 1818 belegt. Müller beschrieb die Handschrift in einer Anmerkung zum zweiten Band seiner Sagabibliothek, und ein anonymer Kollege von ihm tat dasselbe im zweiten Band der durch die Arnamagnäanische Kommission besorgte Ausgabe der Lieder-Edda. Dieser Kollege hatte die Abschrift nicht unbedingt selbst eingesehen und kann sich auf eine Mitteilung von Müller gestützt haben, der ja Mitglied der Arnamagnäanischen Kommission war. Nach der Rationalen Philologie hängt das Sjurdlied von den verwandten Nibelungentexten ab und ist also jünger als die Thidrekssaga, die Völsungasaga, die Grimildballade und die Hvenische Chronik. Im Fall des letzten Texts war bis 1818 kein direkter Einfluss möglich, denn erst Müller besorgte den Erstdruck der Hvenischen Chronik im zweiten Band seiner Sagabibliothek (S. 408–414), übrigens wenige Seiten vor der Vorstellung des Sjurdlieds (S. 420–430). Dazwischen wurde die Grimildballade beschrieben (S. 414–416). Alle nachweisbaren Quellen des Sjurdlieds wurden also in Müllers Buch nacherzählt. Schon vor Lyngbyes Abreise im Frühsommer 1817 muss die Redaktion des zweiten Bandes ihrem Ende genähert haben. Müller hatte also festgestellt, dass die Nibelungensage in allen germanischen Ländern vertreten war: in Deutschland, Island, Norwegen, Schweden und Dänemark. Er muss sich gefragt haben, ob die Färinger nicht ebenfalls die Geschichte kannten, obwohl sie in Svabos Sammlung nicht zu finden war. Es ist denkbar, dass Müller den jungen Botaniker Lyngbye schon 1817 damit beauftragte, ein färöisches Lied über den Drachentöter aufzuspüren. Im Prinzip kann es sich beim Sjurdlied um einen frechen Betrug handeln. Vielleicht dichtete Müller selbst die Nacherzählung nach den ihm vorliegenden Quellen und berief sich auf eine färöische Gespenstaufzeichnung, die heute spurlos verschwunden ist. Nachträglich können Schrøter und Clemensen das Lied nach Müllers Beschreibung vollendet haben.
  • Vieles spricht allerdings dafür, dass Lyngbye von seiner Reise tatsächlich eine Uraufzeichnung mitbrachte. Das macht das Lied nur ein Jahr älter. Durch Svabo besteht unter allen Umständen eine direkte Verbindung zwischen Worms Aufzeichnung von 1639 und dem Zustandekommen des vollständigen Sjurdlieds 1818. Das Sjurdlied ist ein Musterbeispiel für die von der postulierten Mündlichkeit aufgeworfene Problematik. Weil seine Überlieferung so jung ist, lässt sich die Entstehung der schriftlichen Zeugnisse lückenlos nachvollziehen. Die Urheber der Aufzeichnungen sind alle bekannt, und ihre Fassungen sind datiert oder gehören zumindest in einen sehr engen Zeitraum.
  • Noch vor der wissenschaftlichen Festlegung der Rationalen Philologie ist die Hypothese aufgestellt worden, dass das Sjurdlied vor Lyngbyes Reise nicht existierte und dass die Färinger den Text erst zwischen 1817 und 1851 stufenweise dichteten. Für die heute maßgebliche Fassung soll Schrøter mit seinem Entwurf von 1818 die meisten Strophen geliefert haben. Clemensen ergänzte und verbesserte, und Hammershaimb legte den endgültigen Text und Strophenbestand fest. Ohne Müllers Zusammenstellung der skandinavischen Paralleltexte und vor allem ohne seine Zusammenfassung hätte das Sjurdlied nie seine gegenwärtige Gestalt bekommen. Müller platzierte den Text in die geographische Mitte zwischen der isländischen Völsungasaga, der norwegisch-schwedischen Thidrekssaga, der dänischen Grimildballade und der Hvenischen Chronik und fern vom deutsch-österreichischen Nibelungenlied. Die Verwandtschaft des färöischen Lieds mit diesen Texten steht in einem proportionalen Verhältnis zu ihrer gegenseitigen Entfernung. Für den Mündlichkeitstheoretiker Müller galt das Motto: je näher die Überlieferungszentren, je leichter die Sagenwanderung, auch wenn die Bewegung in diesem Fall zwangsläufig über Wasser verlaufen musste, vgl. Andersen 2007, S. 214–239, ergänzend zu Worms Aufzeichnung Andersen 2012, S. 29f, 513f.

Rezeption

  • Wenn die färöische Bevölkerungszahl in Betracht gezogen wird, übertrifft die Rezeption des Sjurdlieds quantitativ diejenige des Nibelungenlieds in Deutschland und Österreich. Vor allem ist das Lied noch lebendig und ertönt heute tatsächlich „bei festlichen Gelegenheiten aus allen Mündern“ in Übereinstimmung mit Müllers Behauptung. Ob dies auch 1822 der Fall war, lässt sich nicht mehr nachweisen. Während das Nibelungenlied schon lange keine Briefmarkenmotive mehr liefert, hat sich die färöische Post in den letzten Jahren zweimal für Szenen aus dem Sjurdlied begeistert. 1998 kam es zu einer Reihe von vier Briefmarken mit Strophen aus Brinhildar táttur, 2012 zu einer neuen Reihe von sechs Briefmarken mit Strophen aus Regin smiður. Damals hatte die färöische Metal-Band Týr dieses Lied weltberühmt gemacht.

Brynhildstamps

BrynhildStamp450

Brinhild bitten ihren Vater um einen Goldstuhl (II 29)

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Sjurd reitet durch den Flammenwall (II 75)

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Sjurd legt Brinhild zwölf Goldringe in den Schoß (II 96)

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 Gudrun durchwandert die Welt mit Grani (II 237)

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oben links: Der sterbende Sigmund spricht zu Hjördis (I 13)

oben in der Mitte: Sjurd findet das Pferd Grani (I 55)

oben rechts: Regin versucht das Schwert zu schmieden (I 64)

unten links: Sjurd begegnet dem einäugigen Greis (I 94)

unten in der Mitte: Sjurd kämpft mit dem Drachen (I 106)

unten rechts: Sjurd versteht die Vogelsprache (I 120)

  • 2003 verwandelte die färöische Metal-Band Týr einen Teil des Sjurdlieds zu einem weltweiten Hit. Das Stück Regin Smiður erschien in dem Album Eric the Red (→ YouTube). Es besteht aus 16 Vierzeilern, acht Strophen mit Kehrreim (→ Text). Alle Strophen sind fast wörtlich aus Hammershaimbs Ausgabe entlehnt (I 1, 3, 20, 39, 28, 94, 94/91, 106). In Strophe 3 wird Hammershaimbs verderbter Drachenname Frænur nach Lyngbye (Fovnir) und in Übereinstimmung mit der isländischen Überlieferung in Fávnir korrigiert. In Strophe 6 und 7 erlaubt sich die Band einige selbständige Zusätze, ganz wie die Pioniere des 19. Jahrhunderts, die vor allem das Ende des Lieds neu gestalteten. Ein ähnliches Phänomen ist schon bei den dänischen Balladennachdichtern des späten 16. Jahrhunderts zu beobachten. Zur Metal-Band, vgl. ihre englische Website und den deutschen Wikipedia-Eintrag.
  • Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade die jüngste Variante der Nibelungensage heute das weltweit breiteste Publikum erreicht. Wenn das ursprüngliche Nibelungenlied nicht in Deutschland und Österreich Schul- und Pflichtlektüre wäre, würden vielleicht nur noch Altgermanisten dieses schöne Gedicht lesen. Dank dem Wiener Konzertsänger Eberhard Kummer liegt das mittelalterliche Epos heute in musikalischer Form vor. 2006 sang Kummer den gesamten Text im Hildebrandston und mit moderner Aussprache vor und begleitete den Gesang mit keltischer Schoßharfe. Die Einspielung umfasst rund 30 Stunden (vgl. die Website des Künstlers). Ein Vortrag der beiden ersten Strophen ist im Internet zu sehen und zu hören. Er dauert drei Minuten und war am 20.06.2014 von 4862 Liebhabern abgerufen worden (→ YouTube). Zum Vergleich dauert Týrs Hit sechs Minuten und war zum selben Zeitpunkt 479.221-mal abgerufen worden. Mit rund drei Strophen pro Minute singt die Metal-Band fünfmal schneller als der Wiener Konzertsänger. Ihre instrumentale Begleitung steht außerdem in scharfem Kontrast zur keltischen Harfe, und der Clip, der eine rohe Wikingerwelt zeigt, richtet sich natürlich auch an ein ganz anderes Publikum. Doch in beiden Fällen wird der Originaltext fast unverändert gesungen, die Nibelungensage nur in unterschiedlicher Weise rezipiert und interpretiert. Seit der Romantik existiert die mittelalterliche Sage endlich in mündlicher und musikalischer Form, besonders dank Wagners Ring. Kummer und Týr tragen auch zur medialen Verwandlung der Sage bei. In allen drei Fällen liegt ein Text dem mündlichen Vortrag zugrunde. Nach der Rationalen Philologie war es auch so am Anfang. Wenn Minnesänger wie der Marner im 13. Jahrhundert Auszüge aus dem Nibelungenlied vortrugen, dann weil sie den Text aus einer Handschrift kannten. Es ist unvorstellbar, dass sie ihrem höfischen Publikum einen kompletten 30-stündigen Vortrag zumuteten. Wie Kummer und Týr gingen sie davon aus, dass die Geschichte vom Drachentöter in groben Zügen den Zuhörern bekannt war. Deshalb begnügten sie sich mit einer kleinen Auswahl von Strophen. Schriftlichkeit kommt seit eh und je vor Mündlichkeit.

Internationale Balladentagung 2015

  • H. N. Jacobsens Bókhandil (Buchhandlung) und Fróðskaparsetur Føroya (Universität der Färöer) veranstalteten eine internationale Balladentagung in Tórshavn vom 20. zum 24. Juli 2015 → Website
  • Fernsehinterview mit den Professoren Peter Andersen (Straßburg) und Eyðun Andreassen (Tórshavn) über das Alter des Sjurdlieds: Kvæðastevna í Norðurlandahúsinum (‚Balladentagung im Nordischen Haus‘), aufgenommen am 26. Juli 2015, ausgestrahlt in der folgenden Woche vom färöischen Rundfunk Kringvarp Føroya (3 Minuten auf Färöisch und Dänisch), kein Podcast
  • Radiointerview mit denselben Professoren von Kári Solstein, Journalist von Kringvarp Føroya: Vitan: Vóru Sjúrðakvæðini yrkt fyrst í 1800talinum. Sjúrðakvæðini verða hildin at verða elligomul, men nú vil ein professari verða við, at ein prestur í Hvalba yrkti tey øll fyrst í 1800talinum. (‚Wissen: Unsere Sjurd-Lieder entstanden erst im 19. Jahrhundert. Die Sjurd-Lieder werden als uralt betrachtet, aber jetzt behauptet ein Professor, ein Priester in Hvalba habe sie alle erst im 19. Jahrhundert verfasst.‘), ausgestrahlt am 12. April 2016 (52 Minuten auf Färöisch und Dänisch) → Podcast