Sir Tristrem

Die einzige ältere englische Bearbeitung der Tristansage liegt in dem anonymen Gedicht vor, das seit seiner Erwähnung durch Robert Mannyng im 14. Jahrhundert Sir Tristrem genannt wird. Es ist in der berühmten mittelenglischen Auchinleck-Handschrift überliefert, die heute auf der schottischen Nationalbibliothek in Edinburgh aufbewahrt wird. Sie ist nach dem ersten Besitzer Alexander Boswell, Lord von Auchinleck, benannt. Er erwarb 1740 die Handschrift und schenkte sie 1744 dem Vorgänger der Nationalbibliothek. Sie besteht aus 334 Blättern und enthält je nach Zählung 45 verschiedene Stücke. Sir Tristem ist als Nr. 38 auf 19 Blätter eingetragen. Das Gedicht hat 3344 Verse, die sich in 304 Strophen gliedern. Am Ende fehlt ein Blatt, also rund 15 Strophen. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist die Handschrift um 1330 in London von professionellen Schreibern hergestellt worden. Es ist umstritten, ob diese Engländer die Texte selbst dichteten bzw. übersetzten oder ob es sich einfach um Abschriften handelt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt wird Sir Tristrem als hochberühmt beschrieben. Im Prolog zu seiner mittelenglischen Chronik erklärte Robert Mannyng, er habe der Klarheit wegen ein einfaches Metrum gewählt. Er distanziert sich dabei von den Liedern des Erceldoune und von Sir Tristrem. Dieses Lied wäre das beste aller Epen (gestes), wenn man es so vortrüge, wie Thomas es gedichtet hat (vgl. Hearne 1725, S. xcix, deutsche Zusammenfassung: Kölbing 1882, S. xviii).

Der Autor von Sir Tristrem erzählt, er habe die Geschichte aus dem Mund eines Thomas gehört, den er in Erceldoun besucht habe (Str. 1). Er meint Earlston in Südschottland an der englischen Grenze. Es ist die Geburtsstadt des sagenhaften schottischen Dichters und Propheten Thomas Learmonth, auch gekannt als Thomas the Rhymer. Er starb um 1298. Obwohl Robert Mannyng die Lieder dieses urkundlich schwer erfassbaren Dichters von Sir Tristrem unterscheidet, schrieb Walter Scott ohne weiteres das letzte Gedicht Thomas the Rhymer zu (Scott 1803, S. 308f). Mit dieser übereilten Identifikation hat der berühmte Schotte große Verwirrung ausgelöst, zumal er das Gedicht fünfmal edierte. Seine Hypothese wurde erst von Eugen Kölbing in Frage gestellt. Der deutsche Philologe, der 1882 den Text neu herausgab, vermutete eine Verwechselung mit Thomas von Britannien, der seinen Tristan mindestens 100 Jahre vor der Entstehung von Sir Tristrem dichtete. Scott hatte nicht erkannt, dass dieser altfranzösische Tristan dem mittelenglischen Gedicht zugrunde liegt.

Obwohl der anonyme Autor der strophischen Bearbeitung behauptet, er habe die Erzählung in Südschottland von den Lippen des Thomas gehört, ist mit einer schriftlichen Vorlage zu rechnen. Sir Tristrem folgt der altfranzösischen Vorlage verhältnismäßig treu und kürzt nur die Handlung. Dies ist an den erhaltenen Fragmenten von Thomas‘ Tristan und an Gottfrieds und Roberts Parallelfassungen erkennbar. Das elsässische Gedicht hat zum Beispiel genau dieselbe Episodenfolge wie Sir Tristrem bis Strophe 243. Schätzungsweise hatte das mittelenglische Original nur ein Zehntel des Umfangs der altfranzösischen Vorlage. Der Thomas, der von Robert Mannyng für seine Klarheit und seine Vollständigkeit gelobt wird, dürfte mit Thomas von Britannien identisch sein. Obwohl Scott dessen Tristan nicht als Vorlage für Sir Tristrem hielt, versuchte er auf dieser Textgrundlage, das verlorene Ende des mittelenglischen Gedichts zu rekonstruieren, und verfasste selbst 15 zusätzliche Strophen (Scott 1804, S. 193–200). In seiner Edition gliederte er die vorliegenden 304 Strophen ohne handschriftliche Unterstützung in drei Teile von bzw. 102, 107 und 95 Strophen. Seit Kölbing verzichten die Herausgeber auf diese willkürliche Gliederung.

Sir Tristrem hat einen kunstvollen Strophenaufbau, die nur schwach variiert wird. So sieht das gewöhnliche Reimschema aus: ababababcbc. Der Anfang des Abgesangs wird nicht nur durch einen neuen Reim markiert, sondern auch durch eine verkürzte Verslänge. Der neunte Vers hat nur eine Hebung, während alle übrigen drei haben.

 Überlieferung

Online-Ausgaben

Weitere Ausgaben

Online-Übersetzung

Weitere Übersetzungen