Unter dem gemeinsamen Titel Folie Tristan (‚Tristans Wahnsinn‘) sind in Wirklichkeit zwei verschiedene Gedichte bekannt. Sie sind in zwei vollständigen Handschriften und einem Fragment überliefert und werden nach dem Aufbewahrungsort der beiden Haupthandschriften Berner und Oxforder Fassung genannt. Sie enthalten bzw. 584 und 998 achtsilbige Verse. Das Fragment in Cambridge, das in der Forschung erst seit den 1970er Jahren berücksichtigt wird, entspricht der kürzeren Berner Fassung. Die Gedichte entstanden beide um 1200, die Oxforder Fassung eher vor der Jahrhundertwende (vgl. Bédier 1907, S. 13), die Berner Fassung eher danach (vgl. Bédier 1907, S. 84). Beide Gedichte thematisieren dieselbe Wiederkehrepisode. Tristan kehrt in der demütigenden Verkleidung als Narr von der Bretagne zu Isolde zurück. Sie weigert sich zunächst, im missgestalteten Narren ihren Geliebten zu erkennen. Entsprechende Episoden finden sich in anderen Texten, besonders bei Eilhart (V. 7865-8134).
Die Oxforder Handschrift gehörte ursprünglich dem englischen Antiquar Francis Douce, der seine Sammlungen an die Bodleian Library schenkte. Die Handschrift beginnt mit dem längsten bekannten Fragment von Thomas‘ Tristan (Bl. 1r–12v). Unmittelbar darauf folgt die Folie Tristan. Letzteres Gedicht enthält so viele Reminiszenzen an Thomas‘ Roman, dass dieser als direkte Vorlage für die episodische Fassung in Frage kommt (vgl. Bédier 1907, S. 2f).
Eine direkte Quelle für die Berner Fassung lässt sich nicht ermitteln. Die Vorlage für dieses Gedicht scheint eher mit Béroul’s Roman verwandt gewesen zu sein (vgl. Bédier 1907, S. 82f). Nach Einträgen auf der ersten Seite gehörte die Berner Handschrift im 16. Jahrhundert dem französischen Gelehrten Henri Estienne und kam von ihm an den Schweizer Bibliomanen Melchior Goldast. Der Berner Jakob von Graviseth schenkte sie 1628 der Stadt Bern. Die Handschrift verschwand 1809 und tauchte 1836 bei einem Pariser Buchhändler wieder auf. Dort wurde sie von der Bibliothek in Bern gekauft.
Überlieferung
- Bern, Burgerbibliothek, 354: 274 Bl., Pergament, Ende 13. Jh., 4to, Folie Tristan: Bl. 151rb–156rb → Bédier 1907, Arlima
- Cambridge, Fitzwilliam Museum, 302: 100 Bl., 13. Jh., Folie Tristan: Bl. 100rb–100vb→ Arlima, JONAS
- Oxford, Bodleian Library, Douce d 6: 46 Bl., Pergament, Mitte 13. Jh., Folie Tristan: Bl. 12vb–19ra (Abbildung) → Bédier 1907, Arlima
Online-Ausgaben
- Michel 1835 (Oxford), Michel 1835 (Bern), Morf 1886 (Bern), Curdy 1903 (Oxford, schwer lesbar), Bédier 1907 (Oxford), Bédier 1907 (Bern)
Weitere Ausgaben
- Hoepffner 1934 (Bern), Hoepffner 1938 (Oxford), Hoepffner 21939 (Bern), Hoepffner 21943 (Oxford), Hoepffner 31949 (Bern), Hoepffner 21963 (Oxford), Dean/Kennedy 1973 (Bern), Payen 1974 (Bern/Oxford), Payen 21982, Lacroix/Walter 1989 (Bern/Oxford), Payen 31989, Lacroix/Walter 21992, Short 1993 (Oxford), Lecoy 1994 (Bern/Oxford), Payen 42004, Lacroix/Walter 32010, Payen 52010
Online-Übersetzung
- Galloni 2004 (ital.)
Weitere Übersetzungen
- Payen 1974 (fr., Bern/Oxford), Payen 21982, Lacroix/Walter 1989 (fr., Bern/Oxford), Payen 31989, Lacroix/Walter 21992, Weiss 1992 (engl., Bern/Oxford), Marchello-Nizia 1995 (fr., Bern/Oxford), Fryckstedt/Rankka 2000 (schw., Oxford), Baumgartner/Short 2003 (fr., Bern/Oxford), Payen 42004, Weiss 2009 (Oxford), Lacroix/Walter 32010, Payen 52010